Kenan Kolat: „Die Türkei darf sich nicht zu einer Diktatur entwickeln“
Seit Montag können türkische Staatsbürger in Deutschland über die Änderung der türkischen Verfassung abstimmen. Wie ist die Resonanz?
Das Interesse an der Abstimmung ist sehr groß. An den ersten beiden Tagen haben in Berlin mehr als 5000 Menschen ihre Stimme abgegeben. Bundesweit waren es fast 40.000. Das sind deutlich mehr als bei der türkischen Parlamentswahl im November 2015. Ich rechne am Ende mit einer Wahlbeteiligung von 50 bis 60 Prozent in Deutschland. In Berlin wird sie noch etwas höher liegen. Die CHP organisiert ab dem Wochenende einen Fahrdienst mit Bussen und Taxis, die die Wahlberechtigten zum Konsulat und wieder zurückbringen werden.
Wie wird die Abstimmung in Berlin ausgehen?
Ich rechne mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen der Befürworter und der Gegner. In Berlin sollten am Ende die Gegner knapp vorne liegen, denn die AKP hat hier ihr schlechtestes Ergebnis in Deutschland bei der Parlamentswahl eingefahren, während die CHP hier ihr bestes Ergebnis bekommen hat. Insgesamt denke ich aber, dass das Gesamtergebnis nicht sehr stark durch das Ergebnis in Deutschland mit immerhin 1,4 Millionen Wahlberechtigten beeinflusst wird.
Wird sich Erdogan mit der Verfassungsänderung durchsetzen?
Das ist sehr schwer vorherzusagen. Ich denke, es wird ein sehr kappes Ergebnis geben. Bei der Präsidentschaftswahl lag Erdogan am Ende gerade mal mit 800.000 Stimmen vorn. Das ist nicht viel. Und diesmal wird es wohl noch knapper werden. Ich bin aber optimistisch, dass am Ende eine Mehrheit Nein sagt.
Die CHP wirbt für ein Nein zur Verfassungsänderung – warum?
Die Türkei darf sich nicht zu einer Diktatur entwickeln. Freie Meinungsäußerung muss möglich sein. Eine Demokratie lebt vom Streit unterschiedlicher Ideen. Wird die Verfassung wie geplant geändert, sehen wir die Gefahr, dass viele demokratische Grundrechte eingeschränkt oder sogar abgeschafft werden. Die Türkei wird zum Parteistaat. Deshalb mobilisieren wir, wo wir können – mit Diskussionsveranstaltungen, einem politischen Frühstück, sogar einen Autokorso haben wir gemacht. Damit wollen wir klar zeigen, dass es auch eine andere Meinung zur Verfassungsänderung gibt als die von Erdogan und der AKP.
Erdogan wirbt in der Türkei vehement für die Verfassungsänderung. Gegner greift er scharf an. Hat das bereits Konsequenzen?
Erdogan hat ein Feind-Freund-Bild aufgebaut. Darin ist er ein Meister. Die türkische Gesellschaft hat er dadurch vollkommen gespalten. Sie ist polarisiert wie lange nicht. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Es wird sich zeigen, ob das nach der Abstimmung am 16. April zurückgeholt werden kann.
Kann Erdogan das gespaltene Land wieder versöhnen?
Da bin ich sehr skeptisch. Erdogan ist kein Versöhner. Er hätte die historische Chance gehabt, Islam und Demokratie zusammenzubringen, aber er hat sie nicht genutzt. Ein Großteil der Menschen in der Türkei, auch viele AKP-Wähler, will einen säkularen Staat. Erdogan aber ist dagegen und greift den Säkularismus an. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er als nächstes versuchen wird, den Freitag als gesetzlichen Feiertag zu etablieren und die Islamisierung der Türkei weiter voranzutreiben. Es wird dagegen Widerstand geben, aber die Opposition in der Türkei ist schwach und durch unterschiedliche Interessen gespalten.
Während des Wahlkampfs haben Erdogan und einige seiner Minister mit Nazi-Vergleichen für Empörung gesorgt. Was war das Ziel dieser Provokationen?
Durch diese Vergleiche mobilisiert Erdogan bestimmte Wählergruppen in der Türkei, vor allem die Ultra-Nationalisten, aber auch viele AKP-Anhänger. Es ist Erdogan auffallend schwer gefallen, seinen Anhängern zu erklären, warum sie für die Verfassungsänderung stimmen sollen. Deshalb schlägt er nationalistische Töne an, um sie so an die Wahlurnen zu treiben. Die vielen offenen Fragen und Aufklärungspannen rund um den NSU haben es Erdogan bei den Nazi-Vergleichen übrigens leicht gemacht.
Sie sagen, Sie sind optimistisch, dass die Verfassungsänderung nicht durchkommt. Was, wenn doch?
Dann wird der Druck auf die Gesellschaft und das politische System nochmal zunehmen. Vieles wird schwieriger. Rein praktisch würden 2019 die nächste Präsidentschafts- und Parlamentswahl stattfinden. Die oppositionellen Parteien müssten sich dann auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, der stark genug ist, Erdogan gefährlich zu werden. Darin liegt vielleicht eine Chance dieses Verfassungsreferendums: Es vereint die gespaltenen Parteien der Opposition in der Ablehnung. Vielleicht kann daraus eine neue Gemeinsamkeit erwachsen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.