International

Keine Revolution für Polygamie

von Hannah Wettig · 21. September 2014

Die Frauen im Land versuchen verzweifelt, ihre Rechte gegen die Islamisten zu verteidigen. Das ist schwierig. Und gefährlich. Mitunter lebensgefährlich.

Die Tunesierinnen sind stolz auf ihre Gleichberechtigung. „Wir durften früher wählen als die Schweizerinnen“, betont Laila Alphil. Sie ist aktives Parteimitglied der sozialdemokratischen Ettakatol, der drittstärksten Partei in der tunesischen Regierung.  

Die Islamisten an der Macht
Es ist ein wichtiges Thema in Tunis. Ein Jahr nach der Revolution weiß niemand, was die Islamisten vorhaben. Aus den Wahlen im Oktober zur verfassungsgebenden Versammlung ging die moderat islamistische Ennahda mit 37 Prozent der Stimmen als stärkste Partei hervor. Gemeinsam mit Ettakatol und dem Kongress für die Republik, einer weiteren Mitte-Links-Partei, stellen die Islamisten nun die Regierung.

Viele befürchten, dass die Islamisten die Familiengesetzgebung ändern könnten und damit die Gleichberechtigung von Frauen abschaffen. „Ich bin nicht in den Kugelhagel im Januar gegangen, damit die Polygamie wieder eingeführt wird“, schrieb die Bloggerin Lina Ben Mhenni. Allerdings hat die Ennahda mehrfach betont, dass sie nichts dergleichen vorhabe. Aber Ben Mhenni sagt: „Man kann diesen Leuten nicht trauen. Letzte Woche hat ein Ennahda-Abgeordneter gefordert, man müsse den Leuten, die jetzt noch Sit-Ins veranstalten, die Hände und Füße abhacken.“

Todeslisten der Salafisten
Mit dem Demokratieverständnis der Islamisten ist es tatsächlich nicht weit her. Radikale Salafisten bedrohen und verprügeln linke Studenten und Professoren. Sie haben auch Todeslisten erstellt. Darauf stehen Demokratie-Aktivisten der ersten Stunde der Revolution. Moderate Islamisten gehen in anderen Ländern, etwa in Ägypten, auf Abstand zu Salafisten. Doch hier sehen viele Ennahda hinter den Attacken.

Auf der Avenue Habib Bourguiba beobachtet Wissam Alabidi mit zwei Freunden eine Gruppe von rund 200 Bärtigen, die grüne Fahnen schwenken und hasserfüllte Parolen grölen. Es ist eine winzige Gegendemonstration; zur gleichen Zeit protestieren Zehntausende ein paar hundert Meter weiter für Meinungsfreiheit. „Die hat der Innenminister geschickt“, sagt Alabidi über die Salafisten-Demo. Der Innenminister gehört Ennahda an. Alabidi könnte es wissen: Er arbeitet als Jurist im Premierministerium. Er sagt aber auch: „Das sind notwendige Debatten. Das geht vorbei.“

Am nächsten Tag schreibt die Zeitung Le Quotidien zu einem Foto der großen Demonstration für Meinungsfreiheit: „Frauen kamen in großer Zahl, um ihre Rechte zu verteidigen.“ Auf dem Foto sieht man zwei Frauen unter vielen Männern. Überhaupt sind Frauen im öffentlichen Raum weit weniger präsent als die selbstbewussten Äußerungen vieler Tunesierinnen vermuten lassen. In den Cafés, ob auf der Avenue Habib Bourguiba oder an der Porte de La France, sitzen nur Männer, eine Gruppe von jungen Frauen und Männern stellt sich als spanische Touristen heraus.

Frauen verschwinden aus der Öffentlichkeit
Der Vorsitzende von Amnesty International in Tunesien, Lofti Azzouz, sieht eine schleichende Änderung von Einstellungen: „Junge Frauen fühlen sich unwohl, Bier in der Öffentlichkeit zu trinken oder auf der Straße zu rauchen, weil die Salafisten sagen, eine Muslimin tut das nicht. Daher gehen sie in Cafés, die von der Straße nicht einsichtig sind.“

„Es ist nicht alles perfekt für Frauen“, sagt die Sozialdemokratin Laila Alphil. „Aber wir haben keine Angst vor den Islamisten. Wenn Ennahda den Code Civil anfasst, macht Ettakatol nicht mit.“

Ihre Genossin Zeineb Bellasfar fügt hinzu: „Ihr in Europa seid auch nicht gleichberechtigt.“ Sie erzählt: „In Paris bekam ich ein Flugblatt in die Hand gedrückt für gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ich habe das erst gar nicht verstanden. Hier werden Frauen selbstverständlich genauso bezahlt wie Männer.“

Die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni, 27: „Ich bin nicht in den Kugelhagel im Januar gegangen, damit die Polygamie wieder eingeführt wird.“ /Foto: Shashank Bengali/MCT/Getty Images

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