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Katalonien: „Ein Ende der Unruhen ist derzeit nicht in Sicht.“

In Katalonien eskalieren die Spannungen zwischen Separatisten und spanischer Regierung. Der Konflikt wird auch Einfluss auf die bevorstehende Neuwahl des spanischen Parlaments haben, meint der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Gero Maaß.
von Claudia Detsch · 22. Oktober 2019
Unabhängigkeitsdemonstrant in Barcelona: Die Katalonien-Frage setzt Ministerpräsident Pedro Sánchez unter Druck.
Unabhängigkeitsdemonstrant in Barcelona: Die Katalonien-Frage setzt Ministerpräsident Pedro Sánchez unter Druck.

In Barcelona und andere Orten Kataloniens ist es in den vergangenen Tagen zu schweren Ausschreitungen gekommen. Auslöser der Proteste war ein Urteil des Oberstem Gerichtshofs gegen katalanische Befürworter der Unabhängigkeit, die 2017 an der Organisation des Unabhängigkeitsreferendums beteiligt waren. Warum sind die Proteste derart eskaliert?

Von der spanischen Justiz wird das Referendum als illegal eingestuft. Die Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 13 Jahren, u.a. wegen „Aufruhrs“. Das Urteil des Obersten Gerichtshofes ist der vorläufige Höhepunkt in einer nicht enden wollenden Konfrontation zwischen Madrid und Katalonien. Schon kurz nach der Bekanntgabe kam es in Katalonien zu Demonstrationen und Sitzblockaden gegen das Urteil. Der Verkehr auf dem Flughafen El Prat in Barcelona konnte zeitweise nicht fortgesetzt werden. Regionalpräsident Torra rief die katalanische Bevölkerung zum zivilen Ungehorsam auf. Indes beschwören die katalanischen Unabhängigkeitsverbände einen „demokratischen Tsunami“ herauf. Sie sehen das Urteil als willkommenen Anlass, den in jüngster Zeit erlahmten Unabhängigkeitsbestrebungen wieder Auftrieb zu verleihen.

Wie steht es um die Zustimmung zur Unabhängigkeit generell?

Ein erneutes, letztlich wieder illegales Referendum wurde bereits ins Spiel gebracht – die Herausforderung indes bleibt: natürlich lässt sich der Katalonienkonflikt nicht juristisch, sondern nur politisch lösen. Die spanische Verfassung hat dafür hohe Hürden vorgesehen. Und es braucht eine eindeutige Mehrheit in der Bevölkerung. Die windelweichen Mehrheiten, die das letzte einseitige Referendum aus dem Jahr 2017 spiegeln, reichen dazu keinesfalls.

Welche Möglichkeiten hat die sozialdemokratische Zentralregierung in dieser angespannten Situation, um die Proteste einzudämmen und konstruktive Gespräche über das künftige Verhältnis zwischen Zentralstaat und Katalonien zu führen?

Pedro Sánchez, der geschäftsführende spanische Ministerpräsident, ließ die Präsenz der nationalen Polizei vor Ort verstärken. Gleichzeitig schloss er  eine Amnestie des Urteils aus. Zudem drohte er mit einer Zwangsverwaltung gemäß Artikel 155 der Verfassung, sollte die katalanische Regierung die Aufrufe zum zivilen Ungehorsam unterstützen. Trotz allem sucht er aber weiterhin den Dialog zwischen Madrid und Barcelona innerhalb des spanischen Föderalismus. Das war allerdings bislang nicht von Erfolg gekrönt. Ein Ende der Unruhen ist derzeit nicht in Sicht. 

Werden die Proteste und die Verhärtung der politischen Fronten Auswirkungen auf die anstehende Neuwahl haben?

Allen voran die Katalonien-Frage haben die Parteien rechts der Mitte immer wieder genutzt, um den dialogbereiten Pedro Sánchez unter Druck zu setzen – und er dürfte im Zuge des Wahlkampfes noch ansteigen. Die jüngste Umfrage im Auftrag von El Diario vom 16. Oktober sieht die PSOE bei nur noch 27,3 Prozent der Wählerstimmen. Die konservative Volkspartei (PP) verbucht der Umfrage zufolge wieder mehr Zulauf. Ende September hatten die Vorhersagen die PSOE noch bei 34 Prozent gesehen. Nichtsdestotrotz wird die PSOE wieder mit klarem Vorsprung gewinnen. Sie dürfte aber weiterhin ohne Mandatsmehrheit bleiben. 

Welche Strategie verfolgt die PSOE unter Pedro Sánchez für den Fall, dass sie erneut ohne Mehrheit bleibt?

Am liebsten würde sich die PSOE am portugiesischen Erfolgsmodell orientieren: der parlamentarischen Unterstützung einer PSOE-Minderheitsregierung durch weitere progressive Kräfte. Jedoch käme selbst ein Linksbündnis mit Unidos Podemos laut Umfragen nicht auf die erforderliche Mehrheit von 176 Mandaten. Überdies ist das gegenseitige Vertrauen, nach dem Desaster der letzten Gesprächsrunden vor den verlorenen Parlamentsabstimmungen im Juli, am Nullpunkt angelangt.

Unklar ist, welche Auswirkungen die Abspaltung der Bewegung von Iñigo Errejón (Podemos) auf die Mandatsverteilung haben wird. Schon bei den letzten National- und Regionalwahlen im April bzw. Mai hatte sich die ehemalige Nummer zwei von Podemos nach anhaltenden Konflikten von Pablo Iglesias losgesagt und war mit Más Madrid in der Region und der Stadt Madrid angetreten. Mit Más País tritt diese neue politische Bewegung bei den Neuwahlen in ausgewählten Wahlbezirken mit dem Ziel an, zu einer progressiven Mehrheit beizutragen. Regierungschef Sánchez zeigte sich dieser Option gegenüber aufgeschlossen. In der jüngsten Umfrage fand diese Möglichkeit einer weiteren Auffächerung der spanischen Parteienlandschaft aber noch keine Berücksichtigung.

Kann Sánchez denn auf weitere Unterstützung im Parlament zählen?

Die in den letzten Jahren nach rechts gerückte liberale Partei Ciudadanos könnte sich im Parlament enthalten und sich auf diese Weise von ihrem Rechtsschwenk verabschieden. Seit letzter Woche gibt es Hinweise auf eine solche Strategie. Unter bestimmten Bedingungen scheinen sie bereit, sich bei einer erneuten Vertrauensabstimmung der Stimme zu enthalten und so eine Bestätigung von Sánchez zu ermöglichen. Ein Anknüpfen an die vergeblichen Koalitionsvereinbarungen aus dem Jahr 2016 dürfte es aber nicht geben. Die Abneigung gegen Ciudadanos-Parteichef Rivera ist in weiten Teilen der Anhängerschaft von PSOE zu groß.

Bei der letzten Vertrauensabstimmung hätte die katalanische ERC einem Koalitionsbündnis von PSOE und Podemos ihre Stimmen gegeben – wenn sie denn zusammengefunden hätten. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die links-separatistische Partei im Zeichen des Gerichtsurteils und dem wieder aufflammenden Konflikt dazu erneut bereit ist.

Wie bewertet die Bevölkerung die jüngsten Entwicklungen?

Die Geduld der spanischen Bevölkerung wird durch die bereits vierte Wahl innerhalb von vier Jahren auf die Probe gestellt. Die Politikverdrossenheit spiegelt eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes CIS wider: im September 2019 zählten über 45 Prozent der Spanierinnen und Spanier die Politik bzw. die Politiker zu den größten Problemen des Landes. Das ist der höchste Wert seit dem Start der Umfrage durch das Institut im Jahr 1985.

Konkret zur Frage der Unabhängigkeit Kataloniens positioniert sich die Bevölkerung entlang der Parteilinie: Sympatisanten der katalanischen separatistischen Parteien befürworten mit über 70 bis 90 Prozent die Unabhängigkeit, jene rechts der Mitte fordern eine harte Linie der erneuten Zwangsverwaltung (PP: 78 Prozent, Ciudadanos 69 Prozent, Vox: 83 Prozent) und Parteigänger von PSOE (51 Prozent) und Podemos (60 Prozent) präferieren eine Verhandlungslösung.

Das Interview erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Claudia Detsch

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Sie ist Soziologin und war Herausgeberin der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Nueva Sociedad mit Sitz in Buenos Aires. Von 2008 bis 2012 leitete sie das Büro der FES in Ecuador.

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