Kandidatur von der Leyen: „Der Prozess ist extrem schief gelaufen“
Nach nächtelangen Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs vergangene Woche ihre Vorschläge für die Posten in der EU vorgelegt. Wie bewerten Sie das Personalpaket?
Was der Europäische Rat da nach einer Nacht-und-Nebel-Hinterzimmer-Aktion vorgeschlagen hat, war für alle eine große Überraschung. Aus Sicht der EBD ist es sehr bedauerlich, dass mit Ursula von der Leyen jemand als EU-Kommissionspräsidentin vorgeschlagen wurde, die keine Spitzenkandidatin bei der Europawahl gewesen ist, sich den Wählern also auch nicht hat vorstellen können. Als Person ist sie europäisch eingestellt aber der Prozess ist extrem schief gelaufen.
Die Abgeordneten des Europaparlaments klagen, sie seien vom Rat mit dem Personalvorschlag überrollt worden. Teilen Sie diese Kritik?
Ja, absolut. Ich finde es sehr problematisch, dass es eigentlich einen Prozess gibt, der 2014 ja schon recht gut gelaufen ist, als am Ende EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker Kommissionspräsidenten wurde. Was die Staats- und Regierungschef jetzt aus machtpolitischem Interesse heraus entschieden haben, ist in jedem Fall ein Rückschritt. Allerdings hat sich auch das Europaparlament im bisherigen Prozess nicht mit Ruhm bekleckert. Die Fraktionen hätten viel mehr Druck aufbauen müssen, dass tatsächlich eine Spitzenkandidatin oder ein Spitzenkandidat als Kommissionspräsidentin oder Kommissionspräsident nominiert wird und hätten sich nicht von den Staats- und Regierungschefinnen und -chefs unter Zeitdruck setzen lassen dürfen. Das ist nicht passiert. So wurden dem Rat Tür und Tor geöffnet, eine eigene Kandidatin vorzuschlagen. Aber auch von den nationalen Parteien hätte ich mir gewünscht, dass sie im Wahlkampf die europäischen Spitzendkandidatinnen und Spitzenkandidaten stärker herausstellen und bereits als für die künftige Kommissionspräsidentschaft positionieren. Da gibt es noch deutlich Nachholbedarf.
Sie haben gefordert, die für den 16. Juli geplante Wahl von Ursula von der Leyen im Europaparlament zu verschieben. Was soll das bewirken?
Eine Demokratie braucht Zeit und Gründlichkeit. Innerhalb von zwei Wochen ist es nicht möglich, gemeinsam mit Ursula von der Leyen ein politisches Programm für die EU der nächsten fünf Jahre zu erarbeiten, das eine Mehrheit im Parlament mitträgt. Ursula von der Leyen muss jetzt nachholen, was die europäischen Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten in den vergangenen Monaten getan haben – nämlich Farbe bekennen. Die Amtszeit von Jean-Claude Juncker endet erst zum 31. Oktober. Da gibt es keinerlei Zeitdruck, die Nachfolgerin bereits im Juli zu wählen.
Europapolitisch ist Ursula von der Leyen bisher kaum in Erscheinung getreten. Welche Erwartungen haben Sie an sie?
Sie muss von Anfang an Farbe bekennen, wie sie sich die Zukunft der Europäischen Union vorstellt und was sie in fünf Jahren als Kommissionspräsidentin erreichen möchte. Außerdem muss sie gleich zeigen, dass sie nicht nur die Kandidatin der Mitgliedsstaaten ist, sondern auch die Interessen des Parlaments vertritt. Bisher ist ja vollkommen unklar, wofür Ursula von der Leyen steht. Wir als EBD erwarten, dass sie sich dazu bekennt, wie sie Europa demokratischer machen möchte und wo sie die Schwerpunkte ihrer Amtszeit sieht. Nur dann haben die Abgeordneten die Chance, sich eine Meinung zu bilden, ob sie ihr das Vertrauen aussprechen oder nicht.
Das Prinzip, dass einer der Spitzenkandidaten auch Kommissionpräsident wird, ist nirgends verbindlich verankert. Was muss passieren, damit es in fünf Jahren nicht zu einer ähnlichen Situation kommt wie jetzt?
Am besten wäre es, das Spitzenkandidatinnen und -kandidaten-Prinzip verbindlich im EU-Vertrag festzuschreiben. In Artikel 17 steht zwar etwas dazu, doch das ist sehr schwammig formuliert. Da sollte der Vertrag verändert werden. Das wird nicht einfach, aber ein gewisses Quäntchen Mut würde allen Beteiligten gut tun und die notwendige Klarheit schaffen. Und wenn man schon dabei ist den EU-Vertrag zu ändern, sollte das EU-Parlament endlich ein verbindliches Initiativrecht für Gesetze erhalten. Beides würde die Demokratisierung Europas ein großes Stück voranbringen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.