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Jutta Steinruck: Europa braucht mehr als einen Sozialknigge

„Diese neoliberale Politik in Europa muss endlich ein Ende haben.“ Wenn Europa zu einer echten Sozialgemeinschaft werden will, müssen Standards her, fordert die Europaabgeordnete Jutta Steinruck im Gastbeitrag auf vorwärts.de.
von Jutta Steinruck · 28. April 2017
Jutta Steinruck
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Wenn ich mir als überzeugte Europäerin Berichte über Europa anschaue, dann tut mir das oft von Herzen weh. Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, BREXIT - Europa wird fast nur noch mit Problemen assoziiert, was Populisten und Nationalisten in allen Ländern nur allzu dankbar missbrauchen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa hat infolgedessen tiefe Risse bekommen. Europa ist für viele im besten Fall ein gut funktionierender Binnenmarkt; im schlechtesten Fall ein Bürokratiemonster, das das eigene Leben einschränkt. Wenn es um die wirklich existenziellen Sorgen und Nöte der Menschen geht, tritt die EU dagegen kaum in Erscheinung. Aber gerade hier kommt es darauf an!

Die Menschen sind verunsichert

Viele Menschen fühlen sich durch Trends wie die Globalisierung, den Vormarsch neuer Technologien und den demographischen Wandel stark verunsichert. Wird der Job in fünf Jahren von Robotern übernommen? Wie soll man sich trauen, Kinder in die Welt zu setzen, wenn man nur einen befristeten Arbeitsvertrag in einem Start-up hat? Und wie wird man angesichts der demographischen Entwicklung im Alter über die Runden kommen? Fragen dieser Art sind es, die den Menschen schlaflose Nächte bereiten. Und die EU muss zeigen, dass sie Antworten darauf hat. Dass sie mehr ist als Binnenmarkt und Bürokratie, nämlich eine Solidar- und Sozialgemeinschaft.

Doch ausgerechnet das „Soziale Europa“ ist in den vergangenen Jahren oft zu kurz gekommen. Das liegt auch daran, dass die Mitgliedstaaten die Umsetzung sozialer Rechte häufig als Belastung und Wettbewerbshindernis darstellen. Diese neoliberale Politik in Europa muss endlich ein Ende haben. Wir müssen die soziale Dimension stärken, um das Leben der Bürger zu verbessern und verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Enttäuschte Erwartungen

Ich habe mich daher sehr gefreut, dass EU-Kommissionspräsident Juncker in seiner Antrittsrede - in Anspielung auf die Ratings für Banken - ein „soziales Triple-A“ für Europa in Aussicht gestellt hat. Mit der „Europäischen Säule Sozialer Rechte“ wollte die Kommission ein Instrument entwickeln, das die sich verändernden Realitäten in der Arbeitswelt aufgreift und die Kohäsion innerhalb des Euro-Raums stärkt. Europaweit geltende Sozialstandards also. Umso enttäuschender finde ich das Paket, das die Kommission nun vorgestellt hat. Neben 20 Grundprinzipien und wohlfeilen Absichtserklärungen enthält es nur einen einzigen Gesetzesvorschlag. Der Entwurf bleibt damit weit hinter den von Juncker geweckten Hoffnungen zurück.

Dabei hatte das Europaparlament der Kommission eine gute Vorlage geliefert: Im Januar hat eine große Mehrheit quer durch alle Fraktionen ambitionierte Erwartungen an die Soziale Säule verabschiedet. Zu den Kernpunkten gehörte beispielsweise eine Rahmenrichtlinie für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Diese würde Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen grundlegende Arbeitsrechte und sozialen Schutz garantieren. Zudem forderte das Parlament eine Grundsicherung für alle Kinder, die von Armut gefährdet sind, damit sie kostenlosen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung bekommen sowie Verbesserungen im Bereich Work-Life-Balance. Eine weitere Kernforderung des Parlaments war, die Sozialpolitik im Europäischen Semester zu verankern. Die Europäische Säule Sozialer Rechte sollte zudem für alle EU-Mitgliedstaaten gelten und einen konkreten Fahrplan für die Umsetzung enthalten.

Entwurf der Kommission muss nachgebessert werden

Mit Ausnahme eines Gesetzesvorschlags zur Work-Life-Balance hat nichts davon Eingang in den Kommissionsvorschlag gefunden. Die 20 Grundsätze zur Sozialpolitik fassen lediglich zusammen, was bereits in den europäischen Verträgen, der Menschenrechts-Charta und der Sozialgesetzgebung verankert ist. Weitere, ernsthafte Vorschläge? Fehlanzeige. Um die großen und dringlichen Herausforderungen unserer Zeit zu stemmen, brauchen wir aber Gesetze - keinen Sozialknigge. Wenn die Kommission die Soziale Säule wie geplant auf die Euro-Zone beschränkt, würde das zudem eine weitere Spaltung Europas bedeuten.

Wenn man dem Entwurf etwas Positives abgewinnen will, dann das: Soziales steht nun endlich ganz oben auf der europäischen Agenda. Aber das reicht nicht. Der Vorschlag zur Europäischen Säule Sozialer Rechte muss überarbeitet, unsere Vorschläge müssen aufgenommen werden! Damit die Solidar- und Sozialgemeinschaft endlich Realität wird - und wir wieder mehr positive Nachrichten aus und über Europa hören.  

Autor*in
Jutta Steinruck

ist SPD-Europaabgeordnete sowie sozial- und beschäftigungspolitische Sprecherin der europäischen sozialdemokratischen Fraktion.

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