Justizreform in Israel: Entscheidet die Geburtenrate den Machtkampf?
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Wenn man sich über die gegenwärtige Unruhe in Israel informieren will, gewinnt man als Europäer*in den Eindruck, hier werde um den Bestand der israelischen Demokratie gerungen, die durch die eingeleitete Justizreform der Regierung gefährdet sei. In Israel wiederum tönt die Rechte, das Oberste Gericht habe sich in den vergangenen Jahren zunehmend die Autorität angemaßt, die Kompetenzen von Regierung und Parlament sowie deren Gesetze zu kontrollieren, daher müssten Exekutive und Legislative nunmehr ihre genuinen Rechte wieder erlangen. Die entscheidende Auseinandersetzung aber spielt sich in der Gesellschaft und Politik des Landes ab. Es geht um Fragen der Macht, der kulturellen Arroganz, der Demografie sowie der sozialen Befindlichkeiten.
Israel besitzt nach dem Vorbild der einstigen britischen Mandatsmacht Großbritannien keine geschriebene Verfassung. Das Parlament, die Knesset, kann Gesetze mit einfacher Mehrheit ändern. Für die Änderung von Grundgesetzen bedarf es einer absoluten Mehrheit. In den letzten Jahrzehnten hat das Oberste Gericht sich mit Zustimmung der Knesset das Recht genommen, Gesetze und Maßnahmen der Regierung auf ihre „Angemessenheit“ zu kontrollieren. Kam das Gericht zur Auffassung, dies sei nicht der Fall, konnte es diese Texte und Entscheidungen verwerfen.
Weltweit einzigartige Struktur des Obersten Gerichts
Zudem besitzt das Oberste Gericht eine weltweit einzigartige Struktur. Die Richter*innen werden nicht nur auf Vorschlag der Regierung von der Knesset gewählt und vom Präsidenten ernannt. Weitere Vorschlagsgremien sind die Anwaltskammer sowie das Oberste Gericht selbst. Dies wurde bereits in der Vergangenheit wiederholt – nicht allein von der Regierung – kritisiert. Hier setzte die Regierung Netanyahu an. Sie will lediglich Exekutive und Legislative für die Bestimmung des Gerichts verantwortlich machen. Zudem möchte sie dem Parlament die Vollmacht geben, mit absoluter Mehrheit alle Gesetze verändern zu können. Dagegen laufen die Opposition und viele Israelis Sturm. Denn das würde die Machtbalance kippen. Sie würde, wie der frühere Ministerpräsident Barak (Arbeitspartei), sagte, „mit legalen Mitteln eine Diktatur errichten“.
Entscheidend bleiben Politik und gesellschaftlich-demographische Fakten. 1948, bei der Gründung Israels, lebten im Lande 806.000 Bürger*innen. Die meisten von ihnen waren europäischer Herkunft. Sie nahmen die Schlüsselstellungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Armee und Justiz ein – hier besonders deutsche Juden. Und gaben sie lange nicht her. In den kommenden Jahren wanderten 3,3 Millionen Menschen ein: aus Europa, zumeist Überlebende des Holocaust. Aus den arabischen Ländern fast ausschließlich Flüchtlinge vor antisemitischer Verfolgung infolge der Gründung Israels. Diese Juden besaßen zumeist stärkere religiöse Bindungen als die Europäer*innen.
Ignoranz der Europäer gegenüber Orientalen
Darauf ging die Regierung, die von Sozialdemokrat*innen, Sozialist*innen, Liberalen und Religiösen europäischer Herkunft geprägt war, kaum ein. Ministerpräsident Ben Gurion und seine Minister*innen waren überzeugt, ihre westliche Kultur sei der orientalischen derart überlegen, dass die Einwanderer*innen sich diese anzueignen hatten. Diese Ignoranz hat der Einwanderer Ephraim Kishon aus Ungarn treffend karikiert und kritisiert.
Den meisten jüdischen Migrant*innen war ihre Zurücksetzung nicht zum Lachen. Doch sie fanden Verständnis – durch die politische Opposition. Der spätere Likud-Chef Menachem Begin und seine Partei nahmen sich der Zuwanderer*innen an und beeinflussten sie mit ihrer politisch-nationalistischen Ideologie. Ben Gurion und seine Nachfolger*innen, etwa Golda Meir, reagierten kaum auf die demographische Entwicklung. Ein arges Versäumnis.
Geburtenrate entscheidet mit über Wahlen
Denn die orientalischen Juden, besonders die religiösen unter ihnen, vermehrten sich weit stärker als die europäischen. Bei den Wahlen von 1977 wurde diese Entwicklung erstmals entscheidend. Die seit dreißig Jahren regierende Arbeitspartei wurde vom Likud abgelöst. Begin wurde Ministerpräsident. Durch den Friedensvertrag mit Ägypten und den Rückzug aus dem besetzten Sinai machte er deutlich, dass auch er den Frieden anstrebte und erstmals dabei Erfolg hatte. In der Siedlungspolitik im arabischen Westjordanland war der Likud keineswegs Vorreiter. Damit begann man bereits nach 1967.
Aufgrund der Demographie brauchte die Arbeitspartei außergewöhnlich attraktive Kandidat*innen wie die Friedensnobelpreisträger Shimon Peres und Yizchak Rabin, um die Mehrheit der Israelis für sich zu gewinnen. Ehud Barak verlor die Macht 2001, da er unfähig war, einen wirksamen Friedensvertrag mit den Palästinensern zu erzielen. Von da an sank der Zuspruch zur Arbeitspartei ständig. Vor allem, weil es ihr nicht gelang, ihre traditionelle Klientel unter den Beschäftigten in einer sich wandelnden Wirtschaft an sich zu binden.
Die Taktik von Premier Benjamin Netanyahu
Besser verstand dies der neue Likud-Chef Benjamin Netanyahu. Seine Prioritäten waren die Modernisierung der Wirtschaft in einem digitalen Zeitalter und ein langsamer, jedoch kontinuierlicher Ausbau der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Mit der Zeit erlag Netanyahu den Versuchungen der Macht. Er wurde wegen Bestechung, Untreue und Betrug angeklagt und steht seither vor Gericht. Dennoch ist er nicht, wie es in Israel Usus ist, zurückgetreten.
Nach den letzten Wahlen im November ging Netanyahu eine Koalition mit den Ultraorthodoxen und Ultranationalisten ein. Diese wollen einen radikalen Umbau der israelischen Gesellschaft und Politik. Die Justiz ist ihnen lediglich Mittel zum Zweck. Finanzminister Smotrich und Sicherheitsminister Ben-Gvir geht es um die forcierte Besiedlung der besetzen Gebiete und eine Diskriminierung der Araber*innen. Da dies der liberale Oberste Gerichtshof ablehnt, soll auch das Justizsystem umgestaltet werden. So weist man darauf hin, dass von den zwölf obersten Richter*innen kein einziger orientalischer Herkunft sei.
Geburtenrate der Orthodoxen drei mal höher
Und die Demographie zu berücksichtigen. Die Bevölkerungsentwicklung ist eindeutig. Die durchschnittliche israelische Frau bringt drei Kinder zur Welt, die europäisch-stämmige Familie etwa 2,5. Die religiöse jüdische Familie hat etwa acht Kinder. Die jährliche Wachstumsrate der orthodoxen Juden beträgt vier Prozent. Damit geraten die Israelis europäischer Herkunft immer weiter ins Hintertreffen.
Das Ringen um die Justizreform ist jedoch nur ein Schauplatz. Es geht vor allem darum, wer die politische und wirtschaftliche Macht in Händen hält. Wenn die stetig zurückgefallene Arbeitspartei wieder Einfluss nehmen will, muss sie sich endlich auf die Belange der Arbeitnehmer*innen konzentrieren. Nur dann wird eine politischen Wende in der absehbaren Zeit nach Netanyahu möglich sein. Juristisch wird eine Revision mit absoluter Mehrheit durchzusetzbar sein. Wie eh und je. Die Herausforderung liegt in der Politik. Nicht nur in Israel.
ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller, Publizist, Politologe und Zeithistoriker.