Als Nujood nach zwei Monaten Missbrauch und Schlägen ihre Eltern um Hilfe anfleht, hat die Familie nur den gehässigen Satz für sie übrig, sie könne ja vor Gericht ziehen und sich scheiden
lassen. Nur, dass Nujood den Ratschlag ihrer sogenannten Tante, der zweiten Ehefrau ihres Vaters, ernst nimmt. Das Mädchen geht, fragt sich zum Gericht in Sana'a durch und setzt sich dort in den
Flur.
Nach einem halben Tag Warten wird der Richter Muhammed Al-Qathi auf sie aufmerksam. "Ich will die Scheidung", sagt ihm das Mädchen. Und der Richter nimmt sie erst einmal mit zu sich nach
Hause, organisiert ihr eine engagierte Anwältin, die den Fall kostenlos übernimmt, und lässt Nujoods Vater und Ehemann in Untersuchungshaft wegen Kindesmissbrauchs und Menschenhandels nehmen.
Mitte April 2008 gibt der zuständige Richter Nujoods Ersuchen statt und löst die Ehe auf.
Das jemenitische Recht erlaubt es, Mädchen in jedem Alter zu verheiraten. Allerdings ist Sex mit ihnen erst ab der Pubertät erlaubt. Hiermit wird Nujoods Scheidung begründet - eine Strafe
für den Ex-Mann folgt daraus nicht. "Ich bin so glücklich, wieder frei zu sein", sagte das Mädchen nach dem Urteil, "ich will zurück in die Schule gehen und nie, nie wieder heiraten."
Ein historisches Urteil
Rund die Hälfte der jemenitischen Mädchen wird einem Amnesty-Bericht zufolge minderjährig verheiratet. Und das bedeutet in der Regel für die Mädchen und Teenager das Ende der Kindheit und des
Schulbesuchs. Ab der Hochzeit haben sie für die Familie des Mannes zu arbeiten - und ihm selbst zur Verfügung zu stehen.
Und das hat Folgen, die ein jemenitischer Sozialwissenschaftler so beschreibt: 39 Prozent der minderjährig verheirateten Mädchen sind nach der Hochzeitsnacht traumatisiert, sie leiden unter
Depressionen, Angstzuständen, manche erholen sich nie wieder von diesem Erlebnis. Eine Mehrheit der Kinderbräute nimmt zudem körperlich Schaden: Mit elf oder zwölf Jahren ist ihr Körper nicht
weit genug entwickelt, um eine Schwangerschaft und Geburt unbeschadet zu überstehen.
Vor diesem Hintergrund ist Nujoods erfolgreiche Scheidung ein historisches Urteil - Rechte sind etwas wert und selbst ein kleines Mädchen kann sie einklagen. Dieser eine Fall ist das
ermutigende Signal für viele malträtierte Mädchen in diesem Land - und auch anderswo, denn Zwangsheirat ist keine jemenitische Spezialität. Weltweit gibt es laut Unicef mehr als 60 Millionen
Frauen, die als Kind oder Jugendliche verheiratet wurden. Im Niger sind es 77 Prozent der Frauen. Im indischen Bundesstaat Rajasthan sind 15 Prozent der Frauen bei ihrer Hochzeit nicht einmal
zehn Jahre alt. Die meisten Betroffenen, etwa die Hälfte, leben in Südasien. Das sind immerhin 21,3 Millionen gezwungene Ehefrauen.
Mädchen, die sich ihrer Verheiratung widersetzen, gehen oft ein großes Risiko ein. Amnesty kommt in einem Bericht über Zwangsheirat zu dem Schluss: "Wenn Frauen sich weigern, die für sie
bestimmte Heirat einzugehen, sind sie Repressionen durch eigene Familienmitglieder ausgesetzt, die von Beschimpfungen und Drohungen über Prügel bis hin zum Ehrenmord reichen."
Trotzdem hat Nujoods Gang zum Gericht im Jemen gleich Schule gemacht: Bereits in den ersten Monaten nach ihrem Erfolg haben drei weitere Kinderbräute die Scheidung eingeklagt. Und auch in
Saudi-Arabien hat sich ein neunjähriges Mädchen im Frühjahr 2009 von ihrem 50 Jahre alten Ehemann scheiden lassen.
Uta von Schrenk ist Journalistin und lebt in Berlin. Mitarbeit: Daniel Kreuz.
Der Beitrag ist erschienen im
Amnesty Journal, Magazin für die Menschenrechte, Ausgabe 02/2010. Schwerpunktthema:
STARKE MÄDCHEN.
Verletzt, verkauft, verheiratet: Was Mädchen erleiden und wie sie ihre Rechte erkämpfen.
Das Menschenrechtsmagazin von Amnesty erscheint sechs Mal im Jahr. Das Amnesty Journal ist bundesweit an allen Bahnhofs- und Flughafenkiosken erhältlich oder zu betsellen unter:
www.amnesty.de/amnesty-journal-jetzt-abonnieren
Unter
www.amnesty.de finden Sie außerdem eine Petition für Gerechtigkeit für Frauen
und Mädchen im Jemen!