Italien: Droht Draghi eine Regierungskrise wegen Ukraine-Politik?
PantherMedia / Narda Gongora
Auf den ersten Blick scheint es, als seien die politischen Verhältnisse in Italien durch die Kommunalwahlen vom Sonntag weitgehend unverändert geblieben: Das Kräfteverhältnis zwischen der Rechten und der Mitte-Links-Allianz bleibt weitgehend unverändert. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die Parteienlandschaft kräftig erschüttert wurde: Beide politischen Lager erlebten deutliche Kräfteverschiebungen in ihrem Inneren, die Auswirkung auch auf die Stabilität der Regierung unter Mario Draghi haben können.
Rechte gewinnen in Genua und Palermo
Etwa neun Millionen Bürger*innen in 971 der gut 8.000 Kommunen waren aufgerufen, Bürgermeister*innen und Stadtparlamente zu wählen. Abgesehen von einigen Ausnahmen trat die Rechte in einer Allianz aus Matteo Salvinis rechtspopulistischer Lega, Silvio Berlusconis Forza Italia und der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) an. Ihr stand das Mitte-Links-Bündnis gegenüber, in dem sich vielerorts die Partito Democratico (PD), das Movimento5Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung), die radikal linke Liste Liberi e Uguali (LeU – Freie und Gleiche) sowie weitere kleine Partner zusammengeschlossen hatten.
Die symbolisch wichtigsten Siege im ersten Wahlgang, in dem 50 Prozent erreicht werden müssen, um als Bürgermeister*in gewählt zu sein, errang eindeutig die Rechte, die sich in den beiden größten zur Abstimmung gerufenen Städten Palermo und Genua klar durchsetzen konnte. Genua ist traditionell links, wurde aber von der Rechten erstmals vor fünf Jahren erobert, der jetzt der erneute Sieg mit 55 Prozent gelang. In Palermo war in den vergangenen zehn Jahren der aus dem Mitte-Links-Lager kommende und auch international bekannte Leoluca Orlando Bürgermeister, der mit seiner harten Haltung gegen die Mafia ebenso wie mit seinem Engagement für Flüchtlinge prominent wurde. Nach zwei Amtsperioden durfte er nicht mehr antreten, und der Rechtskandidat setzte sich mit 48 Prozent durch – in Sizilien reichen bereits 40 Prozent für einen Sieg im ersten Wahlgang.
Linker Kandidat liegt in Verona vorne
Insgesamt lagen die Rechtslisten in allen Kommunen mit mehr als 15.000 Einwohner*innen bei 44 Prozent und sind damit stärkste Kraft im Land. Doch das Mitte-Links-Lager ist keineswegs abgeschlagen: Es erreichte 42 Prozent. Und es konnte sich in zahlreichen Kommunen Erfolge wie die Eroberung der bisher von der Lega regierten Stadt Lodi in der Lombardei oder den Einzug in die Stichwahl mit 40 Prozent im traditionell rechts regierten Verona verzeichnen.
Zwar präsentierten sich die beiden Lager jeweils in der Summe stabil, erlebten aber in ihrem Inneren zugleich heftige Erschütterungen. Rechts musste die Lega einen tiefen Einbruch der Lega hinnehmen. Unter Salvinis Führung hatte sie bei den nationalen Wahlen 2018 17 Prozent und bei den Europawahlen 2019 34 Prozent errungen und war damit die eindeutig das rechte Lager dominierende Partei geworden. Damit scheint es vorbei zu sein. Die Lega wurde fast überall von der postfaschistischen FdI unter Giorgia Meloni überrundet, im Süden Italiens genauso wie im Norden, der früher die Hochburg der Lega gewesen war. Nicht umsonst hieß die Partei einst Lega Nord.
Rechtes Lager: Fratelli d'Italia überholen Lega
Diese Entwicklung ist der Tatsache geschuldet, dass die Lega in Rom zu Draghis Regierungskoalition gehört, während Melonis FdI als einzige nennenswerte Partei zu Draghi in Opposition steht und damit in wachsendem Maß die Stimmen der Unzufriedenen, die sie offen populistisch adressieren kann, anzieht. Nationale Meinungsumfragen spiegeln die Verschiebung wider: Demnach liegt FdI mittlerweile bei 22,5 Prozent, währen die Lega auf 15 Prozent abgesunken ist. Dies wird die Konflikte im Rechtslager weiter verschärfen, zugleich aber auch in der Lega für Zündstoff zwischen den „Regierungstreuen“ und denjenigen sorgen, die auf mehr Abstand zu Draghi drängen. Zugleich aber ist allen rechten Parteien bewusst, dass sie nur im Bündnis untereinander eine reelle Siegchance bei den im März 2023 anstehenden nationalen Parlamentswahlen haben, da das geltende Wahlrecht ein gutes Drittel der Sitze in Wahlkreisen nach Mehrheitswahlrecht vergibt.
Auch im Mitte-Links-Lager sind ähnliche Erschütterungen zu verzeichnen. Die PD unter Enrico Letta kann angesichts flächendeckender Zuwächse gegenüber den vorherigen Wahlen von 2017 eine positive Bilanz ziehen. Dagegen fällt die Bilanz der Fünf Sterne rundum negativ aus. Sie sind flächendeckend mit schweren Verlusten konfrontiert und holten fast überall nur noch einstellige Resultate, oft genug nur von 1-2 Prozent. Selbst in früheren Hochburgen wie Genua mussten sie einen Sturz von 18 Prozent (2017) auf jetzt nur noch 4,5 Prozent hinnehmen.
PD gewinnt, Fünf-Sterne-Bewegung stürzt ab
Die frühere Protestbewegung, die bei den Parlamentswahlen 2018 32,7 Prozent der Stimmen erobert hatte, durchlebt eine tiefe Existenzkrise. Dies ist eine schlechte Nachricht auch für die PD, die auf eine Allianz mit den Fünf Sternen auch bei den Parlamentswahlen 2023 setzt, da nur so ein Sieg der Rechten zu verhindern ist.
Doch das M5S wird in den nächsten Monaten ähnlich wie die Lega Konflikte zwischen den eher regierungstreuen und den gegenüber Draghi kritischen Kräften erleben, die auch zu einer Zerreißprobe führen können. Und ähnlich wie die Lega werden die Fünf Sterne unter ihrem Chef, dem früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, versucht sein, in der Regierungskoalition ihre Sichtbarkeit zu erhöhen.
Ukrainepolitik als Zankapfel
Eine erste Gelegenheit dazu besteht am 21. Juni, wenn das Parlament über die Ukrainepolitik der Regierung debattiert. Sowohl die Lega auf der Rechten als auch die Fünf Sterne im Mitte-Links-Lager sprechen sich gegen die von Draghi geplanten weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Sollten sie im Parlament entsprechende Entschließungsanträge einbringen, könnte dies zur ernsten Belastungsprobe bis hin zum Koalitionsbruch führen.