Herr Scholl-Latour, in Ägypten und Tunesien wurden die Regierungschefs gestürzt, in Libyen tobt ein Bürgerkrieg. Sie selbst haben den Sturz der Regime in den sogenannten "moderaten
Arabischen Staaten" vorausgesehen. Wie häufig standen Sie damit im Gegensatz, zu der veröffentlichten Meinung in dieser Republik. Fühlen Sie sich bestätigt?
Peter Scholl-Latour: Ja und Nein. Ja, weil der Sturz der erwähnten Regime, die ja im völligen Gegensatz zu ihren brodelnden Volksmassen standen, in denen es um die
Menschenrechtslage keineswegs besser bestellt war als im Iran beispielsweise, nur eine Frage der Zeit war. Jeder, der mit offenen Augen durch die Region reiste und dabei nicht nur mit offiziellen
Vertretern der Regierung in Kontakt kam, hätte diese Entwicklung, von der man im Westen völlig überrascht wurde, erkennen können.
Nein, weil der islamische Charakter der Volkserhebung keine große Rolle zu spielen scheint. Vielmehr handelt es sich um einen gerechtfertigten Aufstand der überzähligen Jugend mit Hilfe der
modernsten Kommunikationsmitteln, wie Facebook beispielsweise. Ob das so bleibt, werden wir sehen. In Libyen droht der Aufstand ja gerade wieder zusammenzubrechen.
Befürchten Sie ein Auseinanderbrechen Libyens?
Ich befürchte momentan, dass Gaddafi die Hoheit über das ganze Land zurückgewinnen wird. Auch mit dem Waffenmaterial, welches zu einem nicht unerheblichem Anteil aus den Arsenalen des
Westens stammt. Außerdem war der Osten Libyens, also dort wo der Aufstand begann, schon immer ein Unruheherd, was auch mit der Struktur und der Geschichte der libyschen Gesellschaft
zusammenhängt. Ferner fürchte ich, dass man sich im Westen wieder mit Gaddafi arrangieren wird, gerade um die Erdölversorgung zu gewährleisten und auch um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.
Man hätte eine Flugverbotszone ja durchaus durchsetzen können.
Sie sind Gaddafi öfter persönlich begegnet, was für einen Eindruck hat er dabei auf Sie gemacht?
Ich bin ihm in den 70er Jahren zum ersten Mal begegnet, in Tripolis. Damals war er körperlich und geistig noch fit, allerdings sehr arrogant. Im privaten Gespräch war er höflich. In den
80ern traf ich ihn wieder. Da war er bereits unzurechnungsfähig, schrie herum, ein Wrack, unberechenbar. In den 70er- und 80er Jahren war er der internationale Terrorist Nummer eins, mehr als
jeder andere. Gaddafi ist im Westen schon immer weit überschätzt worden. Er war nie ein großer arabischer Volksheld, als der er gerne in die Geschichte eingegangen wäre.
In den übrigen Staaten der arabisch-islamischen Welt wurde dieser unberechenbare Paranoiker als "Mahbul", als Verrückter, bezeichnet.
Ich fand es immer fragwürdig, dass man ihn Ende der 90er im Westen wieder hofffähig machte. Und das bei einem Mann, der immerhin für Lockerbie verantwortlich ist, der versucht hat, von
Nordirland bis zu den Südphilippinen jede Art von Aufstand zu unterstützen!
Machen wir einen Sprung vom Mittelmeer an den Persischen Golf. Werden die dortigen Unruhen gegen autoritäre Regime überschattet von dem uralten Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten,
beispielsweise in Bahrain?
Dieser Konflikt ist ja schon längst in vollem Gange. Gerade sind Truppen Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate in Bahrain eingedrungen zur Unterstützung des in Bedrängnis
geratenen Königs. Über die Brücke, die Saudi-Arabien mit der Insel Bahrain verbindet, bewegen sich weitere Truppenkontigente. Dahinter verbirgt sich der anwachsende Konflikt zwischen Sunniten und
Schiiten, zwischen Saudi-Arabien und dem Iran.
In Bahrain, wo das sunnitische Königshaus gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit regiert, diese auch unterdrückt, waren immer schon antimonarchistische und pro-schiitische Parolen an den
Häuserwänden zu finden, welche über Nacht immer wieder entfernt wurden, um dann am nächsten Tag um so heller zu leuchten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Bahrain uralte kulturelle
Bindungen zum Iran hat und einmal zum Persischen Reich gehörte. Der letzte Shah von Persien, Reza Pahlevi, betrachtete Bahrain immer als integralen Bestandteil der persisch-iranischen
Interessenssphäre.
Versuchen die Saudis also in Bahrain einem weiteren Anwachsen des iranisches Einflusses entgegenzuwirken?
Richtig. In Bahrain bündeln sich die geopolitischen Interessen. Die 5. US-Flotte ist dort ja auch stationiert. Falls das Königshaus in Bahrain stürzen würde, wären die Interessen
Saudi-Arabiens und der USA unmittelbar berührt. In Saudi-Arabien fürchtet man nichts mehr, als ein Übergreifen dieser Unruhen auf die eigene schiitische Minderheit.
Ist der Iran eigentlich der heimliche Gewinner der aktuellen politischen Umwälzungen in der Region?
Nur zum Teil. Der Iran, als nichtarabischer Staat, wurde natürlich geopolisch gestärkt. Schon durch die Beseitigung seiner beiden größten Feinde ausgerechnet durch die USA, den Taliban in
Afghanistan und dem arabischen Nationalisten Sadam Hussein im Irak.
Seitdem spricht man ja von dem sogenannten "Schiitischen Gürtel", der sich vom Mittelmeer, vom Süd-Libanon bis zum Iran, ja bis nach Afghanistan erstreckt. Der Aufstieg der Shia, historisch
übrigens völlig gerechtfertigt, erschüttert die jahrhundertalte sunnitische Dominanz unter der heutigen Führung Saudi-Arabiens. Allerdings ist die schiitisch geführte Regierung im Irak kein
Vasalle Teherans. Der iranische Einfluss stößt dort an seine Grenzen, weil niemand in Bagdad daran interessiert ist, dass Staatsmodell der Islamischen Republik Iran zu übernehmen.
Weshalb kam es im Iran bisher nicht zu einem Umsturz, wie in Ägypten beispielsweise?
Es gab und gibt im Iran ja durchaus Unruhen. Denken wir an das Jahr 2009, als ein Teil der urbanen, akademischen Jugend gegen das Wahlergebnis revoltierte. Durchaus mit berechtigten
Forderungen. Wahrscheinlich fehlt der dortigen Opposition aber eine Art Lichtgestalt. Die bisherigen Aktivisten stammen ja fast alle aus dem Regime selbst. Dann gibt es aber noch einen anderen
Faktor, den man im Westen nicht gerne zur Kenntnis nimmt.
So schlecht, gerade im direkten Vergleich zu den Nachbaarstaaten, geht es den Iranern nun auch wieder nicht, trotz aller Probleme dort.
Für uns im Westen ist der saudische Einfluss ohnehin viel problematischer als es der iranische Einfluss jemals sein könnte. Dieses zu erkennen, dafür ist der Westen leider noch nicht reif
genug.