Heiko Maas: „Europa steht geschlossener und selbstbewusster da“
Thomas Koehler/photothek.de
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft?
Die Covid-19-Pandemie hat natürlich unsere Planungen im Frühjahr zunächst einmal über den Haufen geworfen. Von da an stand die Bewältigung der Pandemie und ihrer Auswirkungen im Mittelpunkt. Auch organisatorisch mussten wir alles neu denken. Gleichzeitig waren auch andere Projekte dringlich: Verhandlungen des Mehrjährigen Finanzrahmens, die Gespräche zum zukünftigen Verhältnis mit Großbritannien und die Stärkung der europäischen Souveränität. Bei alldem haben wir die großen Zukunftsfragen nicht aus den Augen verloren: Wie wir Europa nachhaltiger, sozialer und digitaler machen können.
Auf den letzten Metern unserer Ratspräsidentschaft haben wir einen großen Erfolg erzielt: Wir haben nach intensiven Verhandlungen die Haushaltsblockade von Ungarn und Polen aufgelöst. Dass der Rechtsstaatsmechanismus für den Haushalt dabei unangetastet bleibt, ist ein Erfolg unserer starken Wertegemeinschaft. Damit verbinden wir erstmals die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien mit der Auszahlung von Fördergeldern. Das ist ein einmaliges Bekenntnis zu mehr Europa, zu einem Europa, das in der Krise zusammenhält. Und mit der gleichfalls erzielten Einigung auf ein noch ambitionierteres Klimaziel, also die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent, haben wir auch global ein Signal gesetzt, dass Europa eine Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel einnimmt.
Für eine abschließende Bilanz ist es trotzdem noch zu früh, nicht zuletzt weil wir uns bei den Verhandlungen mit Großbritannien in einer kritischen Phase befinden. Wir sind bereit, ein ehrgeiziges Abkommen zu schließen, in dem sich beide Seiten wiederfinden. Wir sind aber auch darauf vorbereitet, sollte es nicht dazu kommen.
Was sind die sozialdemokratischen Erfolge?
Wir haben gezeigt, dass die EU in der Krise zusammenhält. Ein großer Erfolg ist, dass das Wort Solidarität in der EU wieder in aller Munde ist – in der Bundesregierung übrigens auch. Mit der historischen Einigung zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Wiederaufbauprogramm im Juli ist es uns gelungen, die EU in Krisenzeiten beieinanderzuhalten. Denn nur eine solidarische EU ist eine gute Krisenmanagerin.
Und wir haben die Philosophie unserer Hilfsprogramme verändert. Dieses Mal standen eben nicht nur Banken oder Großkonzerne im Mittelpunkt der Hilfen. Sondern wir haben mit dem SURE-Programm dafür gesorgt, dass Arbeitsplätze von Menschen überall in Europa gesichert werden und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Krise nicht ins Bodenlose fallen. Das ist ein echter Paradigmenwechsel!
Weitere Fortschritte auf dem Weg hin zu einem sozialen und gerechteren Europa konnten wir bei der Jugendgarantie und der Unterstützung von Saisonarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern erzielen. Zudem haben wir den Weg für verantwortungsvolle Unternehmensführung weltweit geebnet. Das Thema Menschenrechte und gute Arbeit in globalen Lieferketten liegt uns Sozialdemokraten ja besonders am Herzen.
„Der neue Rechtsstaatsmechanismus trägt unsere sozialdemokratische Handschrift“
Der neue Rechtsstaatsmechanismus trägt genauso unsere sozialdemokratische Handschrift. Damit machen wir deutlich, dass wir zu unseren unverhandelbaren Werten stehen. Nur eine rechtsstaatliche Union, eine Union die ihre eigenen Werte ernst nimmt, kann glaubwürdig und souverän handeln.
Mit dem EU-Menschenrechtssanktionsregime ist uns ein weiterer Durchbruch auf dem Weg dahin gelungen, gemeinsam als Europäer weltweit für die Durchsetzung der Menschenrechte einzutreten und Verantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Nationale Alleingänge während der ersten Corona-Welle haben bis in die Bevölkerungen hinein für viel Unmut gesorgt. Welche Konsequenzen hat die deutsche Ratspräsidentschaft daraus kurz-, aber vor allem langfristig gezogen?
Es ist richtig, dass im Frühjahr der nationale Reflex in den allermeisten Mitgliedstaaten zuerst gegriffen hat. Ich kann den Unmut verstehen, aber im Krisenmodus hat jede Regierung die Pflicht, ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wir müssen als EU da hinkommen, dass wir als Gemeinschaft solche Maßnahmen von Beginn an unterstützen können, dass Abstimmungsmechanismen noch besser funktionieren und der europäische Reflex schneller greift.
Und wir haben schon in der aktuellen Krise schnell gelernt. Als Ratspräsidentschaft haben wir die Eindämmung der Pandemie von Beginn an koordiniert. Die Maßnahmen reichten von der gemeinsamen Rückholung von gestrandeten Touristen, über die Aufhebung der Grenzkontrollen bis hin zur gegenseitigen Übernahme von Patientinnen und Patienten. Jetzt geht es auch um gemeinsame Teststrategien, Austausch zu Quarantäneregeln und natürlich eine gemeinsame Impfstoffbeschaffung. Wir Europäerinnen und Europäer verstehen Solidarität aber auch als globalen Ansatz und setzen uns für eine weltweit faire Verteilung des Impfstoffs ein.
Wo steht Europa in der Welt nach der deutschen Ratspräsidentschaft?
Europa steht am Ende dieses Halbjahres geschlossener und selbstbewusster da als zuvor. Auf die Fälschung der Wahlen in Belarus oder die Einschränkung der Demokratie in Hongkong haben wir geschlossen und mit Nachdruck reagiert. In Libyen und in der Ostukraine sind wir einem Frieden deutlich nähergekommen. Und nach äußerst schwierigen vier Jahren haben wir mit Joe Biden und Kamala Harris bald in Washington wieder Partner, die unsere Haltung zum Multilateralismus, zu Menschenrechten und internationaler Solidarität teilen. Das macht es leichter, die vielen internationalen Herausforderungen vom Klimawandel über die Digitalisierung bis hin zu humanitären Krisen gemeinsam anzugehen. Klar ist aber auch: Dafür braucht es ein noch stärkeres, souveräneres und geeinteres Europa. Und daran werden wir weiter arbeiten.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.