Hegemonie der USA vor dem Aus: Wie Russlands Krieg die Welt verändert
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Der Ukrainekrieg markiert endgültig das Ende der Pax Americana, der amerikanisch dominierten Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges. Moskau und Peking fordern die amerikanische Vorherrschaft nun offen heraus. Russland hat sich in den letzten Monaten zwar als Scheinriese erwiesen, doch die globalen Kräfteverhältnisse verschieben sich dennoch immer weiter zugunsten Ostasiens. Mit China ist den USA in den letzten Jahren ein ebenbürtiger Rivale um die globale Hegemonie erwachsen. Und auch in Moskau, Delhi und Brüssel macht man sich Hoffnungen, zu einem Kraftzentrum in einer multipolaren Konstellation werden zu können. Eins steht fest: Der unipolare Moment nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg ist vorüber.
Aber was kommt danach? Um zu verstehen, wie Weltordnungen entstehen und zerfallen, hilft der Blick zurück. Im langen 19. Jahrhundert sorgte ein Großmächtekonzert für Ordnung in einer multipolaren Welt. Völkerrecht und multilaterale Institutionen waren damals schwach entwickelt. Die relative Stabilität auf dem europäischen Kontinent wurde durch die Aushandlung von Interessensphären auf Kongressen und in Hinterzimmern garantiert. Der Frieden im Inneren wurde jedoch freilich durch die aggressive Expansion der europäischen Kolonialmächte nach außen erkauft.
Erste Zäsur der globalen Ordnung: Erster Weltkrieg
Diese Ordnung zerbrach mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Es folgten drei Jahrzehnte voller Kriege und Revolutionen. Wie heute wieder prallten im Äußeren die Interessen aufsteigender und absteigender Großmächte ungefiltert aufeinander, während im Inneren die morschen Institutionen nicht in der Lage waren, die wirtschaftlichen Transformationen sozial abzufedern.
Mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Fundamente einer liberalen Weltordnung gelegt. Der Versuch blieb jedoch schnell im Systemgegensatz des Kalten Krieges stecken. In der bipolaren Ost-West-Konfrontation waren die Vereinten Nation meist blockiert. Doch warum eskalierte der Kalte Krieg nicht zu einem heißen? Der Frieden wurde – vom Ungarischen Volksaufstand über den Prager Frühling bis zur Kubakrise – durch die stillschweigende Anerkennung exklusiver Einflusszonen gesichert.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beeilte sich die amerikanische Hypermacht, eine neue Weltordnung auszurufen. In der unipolaren Welt wurden fortan Regelverstöße vom Weltpolizisten USA sanktioniert. Freunde der liberalen Weltordnung verweisen auf den Vormarsch von Demokratie und Menschenrechten rund um den Globus in dieser Zeit. Kritiker*innen vermuten hinter den humanitären Interventionen eher imperiale Interessen. Aber auch in progressiven Kreisen setzte man große Hoffnungen auf den Ausbau von Völkerrecht und globaler Kooperation.
Einflusszonen sind zurück auf der Weltbühne
Da der Westen jedoch mittlerweile von Krise zu Krise stolpert, bleiben kooperative Ansätze immer öfter im Dickicht der neuen Systemrivalität stecken. Vom Georgienkrieg über die Annexion der Krim bis zur Niederschlagung des Volksaufstandes in Hong Kong: Die Anerkennung exklusiver Einflusszonen ist zurück auf der Tagesordnung. Die liberalen Elemente der Weltordnung – vom Menschenrechtsrat über die Schutzverantwortung bis zum Internationalen Strafgerichtshof – sind nach kurzer Blüte schon wieder blockiert.
Im kommenden Jahrzehnt dürfte die Konkurrenz zwischen den Großmächten mit unverminderter Härte weitergehen. Doch wie lässt sich verhindern, dass sich an diesen Konflikten ein Weltkrieg entzündet? Und wie kann ein Mindestmaß an wirtschaftlicher und politischer Kooperation sichergestellt werden, die wir so dringend brauchen, um die großen Menschheitsprobleme anzupacken?
In Berlin hört man oft, jetzt gelte es erst recht, Demokratie und Menschenrechte mit robusten Mitteln weltweit durchzusetzen. Aber nach dem Desaster von Kabul haben selbst liberale Zentristen wie Joe Biden und Emmanuel Macron die Ära der „humanitären Interventionen“ für beendet erklärt. Sollte sich in Washington, London oder Paris ein isolationistischer Nationalist vom Schlage Trumps durchsetzen, wäre an eine Verteidigung der liberalen Weltordnung ohnehin nicht mehr zu denken. Den Deutschen drohen also die Verbündeten für ihre wertegebundene Außenpolitik auszugehen.
Liberale Weltordnung in Gefahr
Mehr als genügend Partner*innen finden sich in den westlichen Hauptstädten dagegen für einen härteren Kurs gegenüber den autoritären „Systemrivalen“ China und Russland. Wie die globale Reaktion auf die russische Invasion zeigt, hat der Rest der Welt aber wenig Interesse an einer neuen Blockkonfrontation zwischen Demokratien und Autokratien. Hinter den mitunter bizarren Beifallsbekundungen für Russlands Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine – Werte, die vor allem von kleineren Ländern geteilt werden – versteckt sich allerdings weniger Sympathie für russische oder chinesische Ordnungsvorstellungen als jahrzehntelang aufgestauter Frust über das „amerikanische Imperium“.
Denn für viele Menschen im Globalen Süden war die „liberale Weltordnung“ weniger eine Verheißung als ein Vorwand für Militärinterventionen, Strukturanpassungsprogramme und moralische Belehrungen. Nun dürfte auch dem Westen dämmern, dass er geopolitisch auf die Unterstützung undemokratischer Mächte – von den Golfmonarchien bis in die Türkei, von Singapur bis Vietnam – angewiesen ist. Die Rhetorik vom Kampf der Demokratien gegen autokratische Staaten ist dafür kontraproduktiv. Aber wenn selbst der Westen den Universalismus von Demokratie und Menschenrechten aufgäbe, was bliebe dann noch übrig von der liberalen Weltordnung?
Unordnung und Chaos kann Konflikte schüren
Schon der altgriechische Philosoph Thukydides wusste, dass aus der Konkurrenz absteigender und aufsteigender Großmächte große Kriege entstehen können. Folgt auf das Ende der Pax Americana eine Phase der Unordnung voller Kriege, Putsche und Revolutionen?
Nicht nur in Moskau und Peking, sondern auch in Washington findet daher das Modell eines multipolaren Großmächtekonzerts Anhänger*innen. In den verschiedenen Formaten von der G7 bis zur G20 gibt es ja bereits solche Ansätze der club governance, in denen die großen Mächte ihre Interessen miteinander abstimmen. Die Anerkennung exklusiver Einflusszonen kann dabei helfen, Konflikte zu moderieren. Allerdings steht zu befürchten, dass Demokratie und Menschenrechte bei diesem Kuhhandel keine Rolle mehr spielen werden. Mit Blick auf die Menschheitsherausforderungen von Klimawandel über Migration bis Pandemien ist dieses System minimaler Kooperation schlicht zu fragil.
Neoimperialismus erinnert an Orwells „1984“
Die auf Verrechtlichung und Aushandlung basierende Europäische Union dürfte eine solche Wolfswelt vor allergrößte Herausforderungen stellen. Denn nicht nur in Moskau fantasieren einige von einer neoimperialen Politik, die kleineren Völkern das Recht auf Selbstbestimmung aberkennt. Diese albtraumhafte Mischung aus technisierter Unterdrückung im Inneren und endlosen Stellvertreterkriegen im Äußeren erinnert auf gespenstische Weise an George Orwells Dystopie 1984. Man kann nur hoffen, dass der russische Neoimperialismus im Schlamm des Ukrainekrieges scheitert.
Die russische Anerkennung abtrünniger Provinzen eines souveränen Staates hat auch in China die Alarmglocken schrillen lassen. Wer garantiert denn, dass sich nicht morgen Taiwan für unabhängig erklärt? Zumindest rhetorisch kehrt China zu seiner traditionellen Linie zurück, betont die nationalstaatliche Souveränität und verurteilt koloniale Einmischung. Vor den Augen einer erstaunten Weltöffentlichkeit wird in Peking offen darüber diskutiert, ob sich China wirklich mit dem geschwächten Paria Russland hinter einen neuen Eisernen Vorhang zurückziehen sollte, oder nicht etwa viel mehr von einer multilateralen Weltordnung profitieren würde.
Was verbirgt sich hinter diesem „chinesischen Multilateralismus“? Einerseits das Bekenntnis zu Völkerrecht, Welthandel und Kooperation zur Lösung großer Menschheitsfragen – vom Klimaschutz über die Sicherung von Handelsrouten bis zu friedenssichernden Einsätzen. Kooperiert werden soll allerdings nur im Rahmen von Institutionen, in denen China auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten mitentscheiden kann. Das heißt Ja zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, aber Nein zum Internationalen Währungsfonds.
In China wird noch um künftigen Kurs gerungen
Die bestehenden multilateralen Institutionen sollen also entweder an chinesische Ordnungsvorstellungen angepasst werden, oder sie sollen durch alternative Organisationen wie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ersetzt werden. Bleiben die chinesischen Forderungen unerhört, kann Peking immer noch mit seinem Juniorpartner Russland einen eigenen geopolitischen Block bilden. In einer solchen illiberalen (Teil-)Weltordnung dürfte weiterhin multilateral und regelbasiert kooperiert werden; Demokratie und Menschenrechte spielen dagegen keine Rolle mehr.
Um das zu verhindern, könnte es sich lohnen, einen Ausgleich mit China zu suchen. Denn ein aggressives Russland wird man nicht einhegen können, wenn man es in Chinas Arme treibt. Im Gegenteil, ein Schlüssel für die Beendigung des Ukrainekrieges liegt in Peking. Dazu müssten allerdings viele im Westen eine Kehrtwende vollziehen. Denn nicht nur der gefeuerte deutsche Marinechef Schönbach wollte gemeinsam mit Russland in den Kalten Krieg gegen den Systemrivalen China ziehen.
Aber selbst wenn China und Amerika das Kalte Kriegsbeil fürs Erste begraben sollten, stellt eine post-liberale Weltordnung die westlichen Gesellschaften vor unmögliche Fragen. Ist der Preis des Friedens das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ist Kooperation zu Menschheitsfragen nur bei Verzicht auf die Universalität der Menschenrechte zu haben? Oder haben wir trotz allem eine Schutzverantwortung, wenn in den Einflusszonen der Rival*innen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden? Diese Fragen gehen an das normative Selbstverständnis des Westens.
Demokratien in der Minderheit
Welches Ordnungsmodell sich letztendlich durchsetzt, wird in harten Machtkämpfen zwischen den Großmächten und ihren Verbündeten ausgefochten. Allerdings sind die Allianzen, die sich unter der Fahne der jeweiligen Ordnungsmodelle versammeln, sehr unterschiedlich. Unter dem Schlachtruf der Demokratie wird sich nur ein schmales Bündnis westlicher Staaten mit einer Handvoll indo-pazifischer Wertepartner*innen zusammenfinden. Verliert dieses westlich geführte Bündnis den Kampf um die liberale Weltordnung, könnte am Ende eine illiberale Weltordnung mit chinesischen Charakteristika stehen.
Dagegen ist die Verteidigung des Völkerrechts, insbesondere die Unverletzlichkeit der Grenzen, das Recht auf Selbstverteidigung sowie die multilaterale Kooperation innerhalb eines regelbasierten Rahmens mit der UN im Zentrum, im Interesse sowohl demokratischer als auch autoritärer Staaten. Eine Allianz für den Multilateralismus trifft also schon eher auf Unterstützung quer durch die ideologischen Lager. Denkbar ist auch die lose Zusammenarbeit auf der Basis gemeinsamer Interessen. Mit solchen hybriden Partner*innen könnte man beispielsweise beim Klimaschutz kooperieren, aber wirtschaftlich hart konkurrieren. Vieles spricht also dafür, den Systemgegensatz zwischen Demokratien und Autokratien nicht in den Mittelpunkt der Bündnispolitik zu stellen.
Deutschland braucht Europa und offene Märkte
Deutschland kann politisch nur im Rahmen eines vereinten Europas und wirtschaftlich nur auf freien Weltmärkten überleben. Für beides ist eine regelbasierte, multilaterale Weltordnung unerlässlich. Wer ein solches „VN light“-Szenario angesichts der neuen Systemrivalität für unwahrscheinlich hält, sollte sich daran erinnern, dass es auch zu Hochzeiten des Kalten Krieges durchaus möglich war, im Rahmen einer regelbasierten Ordnung auf der Basis gemeinsamer Interessen zu kooperieren.
Von den Rüstungskontrollverträgen über das Verbot des Ozonkillers FCKW bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki war die Bilanz dieses begrenzten Multilateralismus gar nicht mal schlecht. Mit Blick auf Menschheitsherausforderungen wie Klimaschutz, Migration oder Hungersnöte wäre das vielleicht die beste aller schlechteren Welten. Denn auf dem Spiel steht nicht weniger als die Sicherung der Grundlagen von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa.
ist Mitglied der SPD Grundwertekommission. Sein Buch ‚Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise‘ ist 2021 im Dietz Verlag erschienen.