Halbzeitbilanz: Präsident Hollande am Tiefpunkt
„Alles ist möglich für den, der träumt, wagt, arbeitet und nie aufgibt.“ François Hollande zitiert diesen Satz des Regisseurs Xavier Dolan bei seinem Staatsbesuch in Kanada und denkt dabei wohl auch an sich selbst. Denn der französische Staatschef ist zur Halbzeit im Amt auf dem Tiefpunkt angelangt. Nur noch zwölf Prozent der Franzosen haben eine positive Meinung von dem Sozialisten, der am 6. Mai 2012 mit knapp 52 Prozent ins Amt gewählt worden war. „Er hat Versprechen gemacht, die nicht einzuhalten waren“, erklärt Hans Stark vom Französischen Institut für Internationale Beziehungen (IFRI) den Absturz.
Vor allem Hollandes Ankündigung, den Trend zu immer mehr Arbeitslosen bis zum Jahresende 2013 umzukehren, erfüllte sich nicht. Die Arbeitslosenzahl, an der Hollande gemessen werden wollte, ist mit 3,4 Millionen Menschen auf einem Rekordstand. In den vergangenen zweieinhalb Jahren von Hollandes Präsidentschaft kamen rund 500.000 Arbeitslose dazu. Auch beim Wirtschaftswachstum, das inzwischen praktisch bei Null liegt, verschätzte sich der Staatschef.
Widerstand aus den eigenen Reihen
Die wenigen Anhänger, die der 60-Jährige noch hat, halten ihm seine Außenpolitik, den unternehmerfreundlichen Kurs nach dem Vorbild von Gerhard Schröder (SPD) und die Einführung der Homo-Ehe zugute. Doch gerade die Homo-Ehe, die Frankreich vor anderthalb Jahren einführte, sorgte für riesigen Protest. Wochenlang gingen Hunderttausende gegen „mariage gay“ auf die Straße. „Es war nicht unbedingt das Wichtigste, das Mandat mit einer solchen Reform, die die Gesellschaft spaltet, zu beginnen“, kritisiert Stark. „Zuerst wären die Wirtschaftsreformen dran gewesen.“
Doch die setzt Hollande jetzt erst um – und das unter Mühen. Denn der so genannte Verantwortungspakt, der die Unternehmer um 40 Milliarden Euro bei den Sozialabgaben entlastet, ist beim linken Flügel der Sozialisten hoch umstritten. Drei Minister musste Ende August ihren Hut nehmen, weil sie den ihrer Ansicht nach zu liberalen Kurs der Regierung kritisierten. Inzwischen sind die drei Ex-Minister zu Wortführern der „frondeurs“ geworden, jener parteiinternen Rebellen, die der Regierung bei Abstimmungen das Leben schwer machen. „Die eigene Partei stützt die Politik nicht“, bemerkt Hans Stark.
„Er hat es verpatzt“
Der dynamische Regierungschef Manuel Valls, der im April den blassen Jean-Marc Ayrault ablöste, muss bei jedem Votum in der Nationalversammlung um die Mehrheit bangen. Als der Sozialhaushalt Ende Oktober im Parlament verabschiedet wurde, enthielten sich mehr als 30 Sozialisten. Die Gegner des Regierungskurses haben mit der früheren Arbeitsministerin Martine Aubry eine neue Galionsfigur bekommen. „Hollande ist unfähig. Er hat es verpatzt“, zitiert die satirische Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“ die Bürgermeisterin von Lille, die 2012 die Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur gegen Hollande verloren hatte. Die Tochter des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors fordert eine neue Sozialdemokratie, die Schluss macht mit den „alten, liberalen Rezepten“.
Doch gerade der wirtschaftsliberale Kurs, für den Hollandes Wirtschaftsminister Emmanuel Macron steht, ist in der EU willkommen. Brüssel fordert sogar noch mehr Strukturreformen, um im Gegenzug beim Haushaltsdefizit ein Auge zuzudrücken. Da die Einnahmen ausbleiben, liegt die Neuverschuldung im nächsten Jahr bei 4,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit deutlich über der Defizitgrenze von drei Prozent. Die soll erst 2017 eingehalten.
„Wenn er das bis 2017 schaffen würde, wäre das ein Erfolg“, urteilt Experte Stark. Er sieht für die zweite Hälfte von Hollandes Amtszeit kaum politischen Spielraum. Sogar von einer Auflösung der Nationalversammlung ist schon die Rede. Bei Neuwahlen würden allerdings die Sozialisten eine krachende Niederlage erleiden und der rechtspopulistische Front National profitieren. Deshalb dürften die „frondeurs“ darauf verzichten, die Nationalversammlung mit ihrem Widerstand zu blockieren. Wirkliche Reformen sind damit allerdings auch nicht möglich. „In den nächsten ein bis zwei Jahren wird in Frankreich nicht viel passieren“, orakelt Stark.
Christine Longin begann ihre journalistische Laufbahn bei der Nachrichtenagentur AFP, wo sie neun Jahre lang die Auslandsredaktion leitete. Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Frankreich, zuerst für AFP und seit Juli für mehrere Zeitungen, darunter die Rheinische Post.