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Großbritannien: Wie Labour wieder erfolgreich werden könnte

Für die britische Labour Party war das vergangene Jahrzehnt eine schwierige Zeit. Doch es gibt Anzeichen, dass sich die Partei für neue Ideen und Ansätze öffnet. Dabei hat sie auch die SPD im Blick.
von Patrick Diamond · 4. April 2021
Bringt er die Wende? Vor einem Jahr wurde Keir Starmer zum neuen Labour-Vorsitzenden gewählt.
Bringt er die Wende? Vor einem Jahr wurde Keir Starmer zum neuen Labour-Vorsitzenden gewählt.

Die britische Labour Party ist eine der größten und beständigsten sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa. Ihr Schicksal hat Sozialdemokraten auf dem ganzen Kontinent lange Zeit beschäftigt, auch wenn sie ihre programmatische Ausrichtung bisweilen kritisch gesehen haben. Das war besonders in den 1990er Jahren mit der Hinwendung zum „Dritten Weg“ der Fall und erneut nach der Unterstützung der Regierung von Tony Blair für den „Krieg gegen den Terror“ der Vereinigten Staaten und die Invasion im Irak im Jahr 2003.

Ed Miliband und „New Labour”

Sicherlich bietet Labour kein „Modell“, dem andere linke Parteien in Europa nacheifern könnten. Dennoch lassen sich wichtige Lehren aus ihrer quälenden Erfahrung in der Opposition und an der Macht seit 1979 ziehen. Das vergangene Jahrzehnt war besonders bedeutsam, da die Partei versuchte, auf die Finanzkrise von 2008 zu reagieren und gleichzeitig die langfristigen Ursachen ihrer Wahlniederlage von 2010 anzugehen.

Nach dieser Niederlage wählte Labour den jungen und energiegeladenen Ed Miliband als neuen Vorsitzenden. Miliband war ein prominenter Berater und Minister in den Labour-Regierungen von 1997 bis 2010 gewesen. Dennoch versprach er, das Blatt für „New“ Labour entscheidend zu wenden.

Miliband kritisierte, dass New Labour es versäumt hatte, eine plausible Kritik am globalen Kapitalismus zu üben und sich mit unregulierten Märkten abgefunden hatte. Blair und sein Finanzminister und Nachfolger Gordon Brown hatten die Finanzialisierung und Deregulierung der Londoner City, die direkte Ursache des Crashs von 2008, begrüßt. Darüber hinaus hatte New Labour 13 Jahre lang für eine stark zunehmende Ungleichheit in Großbritannien gesorgt. Die Belohnungen, die an die Spitze der Einkommensverteilung gingen, waren astronomisch gewachsen, während Arbeiter mit mittleren Einkommen beispiellose Lohneinbrüche erlitten hatten, zusammen mit zunehmender Unsicherheit, die aus dem technologischen Wandel resultierte.

Höherer Mindestlohn, strengere Unternehmensregulierung

Unter Miliband versuchte die Partei, sich auf die „gequetschte Mitte“ zu konzentrieren, deren Lebensstandard durch die große Rezession unter Druck geraten war. Miliband griff den Raubtierkapitalismus an und forderte ein überarbeitetes Programm mit einem höheren nationalen Mindestlohn, einer strengen Regulierung von Großunternehmen, einem stärkeren Schutz des Arbeitsmarktes und einer Deckelung der Energiepreise, um Haushalten in Not zu helfen.

Wie überzeugend diese ökonomische Analyse auch sein mochte, die gequetschte Mitte wurde dennoch bald zu einem Alibi für eine „Kernwähler“-Strategie, bei der Milibands Partei versuchte, eine Parlamentswahl unter dem „First Past The Post“-System (FPTP) in Westminster zu gewinnen, indem sie sich vor allem auf 35 Prozent der Wählerschaft konzentrierte. Die Folge: Labour erlitt 2015 eine schwere Niederlage und verlor sogar Stimmen, die sie 2010 noch gewonnen hatte.

Der Gesamtanteil der Partei stieg nur aufgrund des desaströsen Abschneidens der Liberaldemokraten, die dafür bestraft wurden, dass sie eine von den Konservativen geführte Koalition ermöglicht hatten. Labour verlor bis auf einen alle Sitze in Schottland. Noch grundsätzlicher schien die Kluft zwischen der Partei und den Wünschen der britischen Wählerschaft zu wachsen.

Jeremy Corbyn wird Parteichef

Eine Konsequenz war die Wahl Jeremy Corbyns zum neuen Parteivorsitzenden. Corbyn hatte zuvor noch nie ein hohes Amt bekleidet, weder in der Partei noch in der Regierung. Dennoch bot er den radikalen Bruch mit der zentristischen Sozialdemokratie, den Miliband nicht bieten konnte.

Corbyn lehnte den globalen Kapitalismus ausdrücklich ab und bekannte sich zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit. Er versprach, die traditionelle Verbundenheit der Labour-Partei mit der Arbeiterklasse wiederherzustellen, indem er die Verbindungen der Partei zu den Gewerkschaften stärkte und versprach, die von den Regierungen Margaret Thatchers in den 1980er Jahren auferlegte Gesetzgebung zu den Arbeitsbeziehungen rückgängig zu machen.

Zur gleichen Zeit mobilisierte Corbyn eine neue Generation von Aktivist*innen mit Universitätsabschluss auf der Linken. Er versprach, die wirtschaftliche Prekarisierung zu bekämpfen, indem er die Verschuldung von Student*innen reduzierte und mehr Sozialwohnungen baute, während er sich für fortschrittliche Anliegen einsetzte, vor allem gegen Rassismus und Antiimperialismus.

Beinahe-Sieg bei der Parlamentswahl

Bei der Parlamentswahl 2017 war Corbyn nahe dran, einen erstaunlichen Sieg zu erringen. Obwohl Labour in den Umfragen über weite Strecken des Wahlkampfes zurücklag, gewann die Partei bei der Wahl mehr als 40 Prozent der Stimmen, da sie die einzigartige politische Koalition mobilisierte, die Corbyn hinter dem Banner eines transformatorischen Sozialismus aufgebaut hatte.

Als die Regierung von Theresa May wegen des Brexits auseinanderfiel, schien Labour den Sieg in greifbarer Nähe zu haben. Doch zwei Jahre später sollte die Partei eine weitere verheerende Niederlage erleiden und den niedrigsten Stimmenanteil seit 1935 einfahren.

Das Problem von Labour war, dass die Partei gespaltener war als je zuvor in ihrer Geschichte. Besonders auffällig war die Kluft zwischen der parlamentarischen Labour-Partei, die sich weitgehend gegen ihren eigenen Vorsitzenden stellte, und den Aktivist*innen an der Basis, die Corbyn vergötterten. Die Kluft zwischen Prinzip und Macht trat extrem zu Tage.

Kaum Erkenntnisse seit 2010

In den zehn Jahren nach der Niederlage von 2010 gelang es Labour daher nicht, einen bedeutenden wahlpolitischen oder strategischen Fortschritt zu erzielen. Zweifellos zog Corbyn eine neue Generation von Aktivist*innen aus dem Millennial-Prekariat an und löste eine nie dagewesene Mobilisierung aus. Dennoch blieb das Verständnis der Partei dafür, warum sie aufeinanderfolgende Wahlen verloren hatte, unterentwickelt.

Außerdem hat Labour nun im Hinblick auf die Wahlen einen Berg zu erklimmen. Um beim nächsten Mal eine parlamentarische Mehrheit zu gewinnen, wäre ein größerer Aufschwung erforderlich, als es 1945 unter Clement Attlee oder 1997 unter Tony Blair der Fall war. Und die Partei war noch nie schwächer in Schottland, in der Vergangenheit ein Schlüsselelement von Labours Wählerbasis.

Noch bedrohlicher ist, dass die Folgen des Brexits die Zukunft des Vereinigten Königreichs selbst in der Schwebe lassen. Sollte es in den kommenden Jahren auseinanderbrechen, könnte Labour gezwungen sein, sich eine Mehrheit nur mit englischen Stimmen zu sichern.  

Doch die Wahlanfälligkeit der Partei spiegelt eine tiefere Malaise wider – den Mangel an überzeugenden politischen Ideen. Der Neoliberalismus und die fiskalische Austerität von New Labour sind heftig abgelehnt worden. Dennoch hat man kaum das Gefühl, dass die Partei in der Lage ist, eine Regierungsagenda zu entwickeln, die das heutige Großbritannien überzeugend angeht.

Wie auch andere sozialdemokratische Parteien in ganz Europa muss Labour erst noch festlegen, wofür sie nach den großen strukturellen Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft steht. Die Politik des Brexits bleibt teuflisch schwierig: Labour ist nach wie vor eine bekennend pro-europäische Partei, doch viele ihrer Kernanhänger*innen haben den Austritt aus der EU unterstützt.

Der intellektuelle Dauerfrost taut auf

Trotzdem gibt es zaghafte Anzeichen dafür, dass der intellektuelle Dauerfrost, der die Partei nach 2019 umhüllt hat, endlich auftauen könnte. Viele in der Labour-Partei fragen sich zunehmend, ob die Partei, die historisch gesehen eine verfassungsmäßig konservative Kraft ist, ihre Unterstützung für das FPTP-System beibehalten sollte, das sie zu langen Oppositionszeiten verdammt. Es wächst die Begeisterung für die Bildung einer „progressiven Allianz“ der linken Mitte, die Liberale, Grüne, Sozialdemokraten und andere Linke umfasst.

Die Linke in Großbritannien hat historisch gesehen auf Schweden und die Demokraten in den USA als Quellen der ideologischen Inspiration geschaut, aber führende Persönlichkeiten zeigen ein wachsendes Interesse an den überarbeiteten Programmen anderer europäischer Parteien.

Die bevorstehenden Wahlen in Deutschland werden genau beobachtet, da die SPD versucht, eine robuste Antwort auf die Ungleichheiten zu schmieden, die durch die Globalisierung und die Automatisierung entstanden sind und durch die Corona-Pandemie noch verschärft wurden. Unter den Sozialdemokrat*innen wächst die Einsicht, dass das Verhältnis zwischen Politik und Kapitalismus durch stärkeren sozialen Schutz, eine Rückbesinnung auf den Wohlfahrtsstaat und nachhaltige öffentliche Investitionen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden sollte.

Wie immer wird es für die Linke keine taktische Abkürzung zur Macht geben. Wie auch andere Mitte-Links-Parteien in ganz Europa wird Labour in Großbritannien nur dann gewinnen, wenn sie in der Lage ist, sich den schwierigen strategischen Entscheidungen zu stellen, die sich in der Politik der neuen harten Zeiten unweigerlich ergeben werden.

Der Text erschien im Original auf Englisch auf socialeurope.eu.

Autor*in
Patrick Diamond

ist außerordentlicher Professor für öffentliche Politik an der Queen Mary University of London. Als ehemaliger Berater der Labour-Regierung ist er Autor von The British Labour Party in Opposition and Power 1979-2019 (Routledge)

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