„Liebling, ich habe den Staat geschrumpft“, so oder ähnlich müsste der britische Finanzminister Jeremy Hunt beim Dinner berichtet haben, nachdem er seinen jüngsten Haushaltsplan im Parlament vorgestellt hatte. Nach dem Desaster des sogenannten Mini-Budgets der zurückgetretenen Liz Truss war Hunts Regierungserklärung zum Bericht des „Büros für Haushaltsverantwortung“ (OBR) mit Spannung erwartet worden. Die Zahlen des OBR, das vergleichbar ist mit den deutschen Wirtschaftsweisen, sind dramatisch und historisch schlecht: Großbritannien droht ein verlorenes Jahrzehnt. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen nach Steuerabzug wird auf das Niveau von 2013 zurückfallen.
Markenkern der Tories: Steuersenkungen
Steuersenkungen gehörten bislang zum Markenkern der Tories. In Zukunft wird die britische Bevölkerung jedoch höhere Steuern zahlen müssen, dafür aber weniger Leistungen erwarten dürfen. Das Wort von der „Shrinkflation“ macht die Runde in Westminster, also die beängstigende Kombination aus sinkendem Wirtschaftswachstum auf der einen und hoher Inflation auf der anderen Seite. Noch gehört Großbritannien zu den reichsten Ländern der Welt, doch die Kommentatoren sind sich einig: Das ganze Land wird ärmer und die soziale Ungleichheit wird weiter zunehmen.
Viele Briten bewundern das skandinavische Modell mit seiner Sozialpolitik, einem erfolgreichen Bildungsniveau und einer klugen Familien- und Geschlechterpolitik – also einen starken Staat. Gleichzeitig träumen sie aber von einem amerikanischen Steuerniveau. Nun bekommen sie das Schlechteste beider Welten. Auf jedem Gehaltszettel wird sich im Kleinen abbilden, welches Desaster die Regierungspolitik der letzten Jahre für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet. Für einen vorsorgenden Staat werden zukünftig noch weniger Mittel vorhanden sein.
Großbritanniens Wirtschaft wächst nicht, sondern dümpelt seit den 2000er-Jahren auf vergleichbar niedrigem Niveau dahin. Die Gesellschaft altert, die Kreditzinsen steigen, die Austeritätspolitik sowie Corona haben tiefe Narben hinterlassen und der Brexit macht alles noch schlimmer. Seit langem nehmen die Menschen den Staat in ihrem Alltag nicht mehr wahr. Die Warteliste des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS wird immer länger. Die Kriminalität steigt, die Aufklärungsrate von Verbrechen sinkt.
Daseinsvorsorge geht verloren
Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Daseinsvorsorge – wie ein funktionierender ÖPNV, Wasserversorgung, Abfallbeseitigung sowie Gas- oder Elektrizitätsversorgung zu erschwinglichen Preisen – gehen sukzessive verloren. Eine Welle von Streiks durchzieht das Land, weil es keine eingeübte Sozialpartnerschaft gibt. Dabei beklagen Expertinnen und Experten nicht nur die seit Jahren ausbleibenden staatlichen Investitionen. Es fehle nicht nur an Geld, sondern auch am politischen Willen, die Probleme, insbesondere des Gesundheits- und Bildungssystems, an ihrer Wurzel zu fassen. Nach zwölf Jahren an der Macht und einer weitgehenden Selbstbeschäftigung mit und um den Brexit sei nicht mehr klar, wofür die Tories programmatisch stünden.
Kein Land in Europa kommt so schlecht durch die derzeitige Krisensituation wie das Vereinigte Königreich. Jetzt rächt sich eine Politik, die zwei Faktoren miteinander zu einer toxischen Mischung verbunden hat: die in den Achtziger-Jahren durch Margret Thatcher angelegten festgefahrenen Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit und das stagnierende Wirtschaftswachstum. Kombiniert man diese Faktoren, bekommt man einen giftigen Cocktail, der vor allem für die Haushalte mittleren und niedrigen Einkommens nicht mehr verdaulich ist. Die sehr kleine, wohlhabende britische Elite wird in Kürze einem Prekariat gegenüberstehen, das nach den Jahren der Austerität, nach Corona und nach dem „Schwarzen Freitag“ vom Oktober diesen Jahres über keinerlei Rücklagen oder zusätzliche Ressourcen verfügt.
Vorteil für die Labour Partei?
Schlägt jetzt die Stunde der Labour Party? Das britische politische System sieht zum jetzigen Zeitpunkt keine Unterhauswahlen vor. Die Konservative Partei zehrt politisch vom Fleisch des Boris Johnson, einer satten Parlamentsmehrheit von 80 Stimmen. Es ist unwahrscheinlich, dass es vor 2024 zu Wahlen kommen wird. Wird sich die Geschichte dann wiederholen? So manch ein politischer Beobachter hat derzeit ein Déja-vu.
Vieles an der derzeitigen Krise erinnert an den „Black Wednesday“, den 16. September 1992, als die Bank of England versuchte, mit Milliardenaufkäufen Spekulationen gegen das britische Pfund Sterling entgegenzutreten und die Tories unter John Major einen ungeheuren Prestigeverlust erlitten. Fünf Jahre später übernahmen Tony Blair und New Labour die Regierungsgeschäfte. Die Wählerinnen und Wähler zeigten sich damals nachtragend, obwohl der letzte konservative Schatzkanzler Kenneth Clarke eine brummende Wirtschaft vorweisen konnte. Im krassen Gegensatz dazu projizierte das OBR bereits jetzt, zwei Jahre vor den nächsten Wahlen, einen massiven Wachstumseinbruch und tiefe Einschnitte in den Lebensstandard. Hat die Opposition also ein Heimspiel? Die Umfragen im November zeigen einen eindeutigen Trend: Konservative 25 Prozent, Labour48 Prozent.
Keir Starmer und die Schott*innen
Spricht man mit dem Umfeld von Keir Starmer, raten Viele zur Vorsicht. Ja, die Popularität der Labour-Partei sei seit den umgesetzten partei-internen Reformen wieder gestiegen, und ja, man habe das Büro des Oppositionsführers jetzt mit Kampagnen-Experten ausgestattet. Mit Rav Athwal hat Starmer einen ausgewiesenen Wirtschaftsexperten mit der Aufgabe betraut, das neue Wahlprogramm zu schreiben. Er steht für eine neue wirtschaftsfreundliche Agenda, mit der Labour ganz offensichtlich die nächste Kampagne bestreiten möchte.
Aber es bleibt noch viel Arbeit. Keir Starmer genießt nicht dieselbe Popularität wie damals der junge Tony Blair. Schottland ist nicht mehr rot gefärbt, sondern fest in der Hand von Nicola Sturgeons Unabhängigkeitspartei SNP. Nach dem derzeitigen Mehrheitswahlrecht würde Labour bei der nächsten Wahl 326 der 650 Sitze für sich vereinnahmen müssen (derzeit haben sie lediglich 195 Sitze). Dies wäre ein größerer Swing als derjenige, der Margret Thatcher 1979 oder David Cameron im Jahr 2010 geglückt war. Gewänne Labour nur 280 Sitze, wäre eine Koalition mit der SNP unabdingbar – einer Partei, die ihre Daseinsberechtigung vornehmlich aus dem Streben nach Unabhängigkeit von London bezieht und diese mit aller Macht durchsetzen will. Wollte man auf die SNP verzichten, müsste Labour in jedem Fall auch Sitze von den Tories in der sogenannten Red Wall, dem traditionellen Labour-Land, das 2019 an Boris Johnson verloren wurde, zurückerobern. Die (noch) regierenden Tories werden aber alles dafür tun, in der verbleibenden Zeit weiter am Neuzuschnitt der Wahlkreise zu arbeiten, so dass neue Mehrheiten zunehmend schwieriger werden.
Labour im Wahlkampfmodus
Labour wird in den nächsten Monaten im Wahlkampfmodus sein. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt werden, auch und gerade in identitätspolitischen Fragen, zu denen der Brexit zweifelsohne gehört. Auch das nicht unbelastete Verhältnis zu den wieder stärker werdenden Gewerkschaften muss erneut geklärt werden. Nach der Staatskrise vom Oktober muss die Partei sich unerwartet schnell strategisch neu aufstellen. Doch für welche Programmatik steht Labour jetzt, wo das auf dem letzten Parteitag vorgestellte Modernisierungsprogramm für eine sozial-ökologische Transformation nur noch sehr schwer finanzierbar ist? Bedeutet Politik nach dem „Schwarzen Freitag“ auch das Ende progressiver Programme?
Eine zusätzliche Kreditaufnahme des Staates ist derzeit nicht mehr ohne weiteres finanzierbar. Womit kann Labour also noch punkten? Die Zufallsgewinnsteuer ist bereits umgesetzt. Die Sozialhilfe, die Renten und der Mindestlohn im Rahmen des Möglichen angepasst worden. Der größte Vorteil von Labour wird wohl sein, für die Krise nicht verantwortlich gemacht werden zu können. Und so hilft nur eines: Neben einer überzeugenden Antwort auf eine der größten Krisen des Landes muss Keir Starmer vor allem Zuversicht ausstrahlen wie einst der junge Blair in seinem berühmtesten Wahlwerbespot: „Things can only get better“ – „Es kann nur besser werden“.
Dieser Beitrag erschien zuerst im IPG-Journal