Grenzschutz: Warum das EU-Parlament Frontex den Geldhahn abdreht
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Herr Kasparek, Die EU-Grenzschutzagentur Frontex steht seit Jahren in der Kritik, zuletzt blockierte sogar das Europäische Parlament das Budget der Agentur. Um was für Vorwürfe geht es eigentlich?
Zum einen gibt es interne Untersuchungen bezüglich Pushbacks (gewaltsames Zurückdrängen von Migrant*innen an den Grenzen, Anmerkung der Redaktion): Ein Zwischenergebnis sieht da zwar keine Belege für Verletzungen des Europarechts, es gibt aber auch Fälle, in denen die die Zweifel nicht ausgeräumt werden konnten.
Dass es Pushbacks gibt an den EU-Außengrenzen ist meiner Meinung nach belegt, auch der UNHCR listet sie auf. Entweder weiß Frontex also nicht, was an diesen Grenzen passiert, dann kann man die Frage nach dem Sinn der Agentur stellen. Oder die Agentur weiß es doch, aber vertuscht dieses Wissen. Das wäre noch schlimmer.
Hinzu kommen noch die Untersuchungen von „OLAF“, der europäischen Anti-Korruptionsbehörde: Frontex soll Millionen ausgegeben haben für Software, die nicht funktioniert und die verantwortlichen Unternehmen dafür nicht in Regress genommen haben. Und zuletzt gibt es noch Lobbyismus-Vorwürfe sowie Vorwürfe bezüglich des Personalmanagements der Agentur.
Warum haben wir eigentlich eine Agentur und keine EU-Grenzschutzpolizei?
Das ist tatsächlich nicht so einfach zu erklären. Eine europäische Migrations- und Grenzpolitik gab es lange nicht. Im Maastrichter Vertrag wollte man das lösen, das ist aber gescheitert. Daneben gab es aber den funktionierenden Schengener Prozess, der im Inneren die Grenzkontrollen abgeschafft hat. Diesen Ansatz hat man 1997 in das EU-Vertragswerk von Amsterdam für die Außengrenzen aufgenommen. Von der Kommission kam dann die Idee einer europäischen Grenzschutzpolizei. Die Mitgliedsländer wollten ihre Souveränität beim Grenzschutz aber nicht aufgeben. Der Vorschlag einer Agentur kam dann 2004. Das Prinzip kennen wir von der EMA, der Europäischen Arzneimittelagentur, die beim Thema Impfstoff ja gerade sehr präsent ist. So sollte auch Frontex den Grenzschutz der EU koordinieren und mit technischer Expertise begleiten.
In dieser Agentur wurden seitdem viele Konzepte zum Grenzschutz sowie dem Einsatz von Technologie wie Biometrie oder Drohnen entwickelt. Aber es gab auch immer wieder Operationen, unter anderem im Mittelmeer und an der Westafrikanischen Küste.
Begünstigt die Agentur-Struktur von Frontex also schon einen gewissen Lobbyismus?
Ja, das kann man so sagen. Der Auftrag von Frontex war von Anfang an auch: Vernetzung von Forschung in Universitäten und bei Rüstungsunternehmen. Lobbyismus, vielleicht sogar Korruption, ist in diesem Netzwerk-Gedanken dann schon beinahe angelegt, da es bei der Aufrüstung der EU-Außengrenzen um viel Geld geht.
Die europäischen Agenturen sind so angelegt, dass sie von politischen Entscheidungen isoliert sein sollen, es soll nur um wissenschaftliche Bewertungen gehen. Allerdings geht es bei Frontex nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern der Grenzschutz überschneidet sich ja an vielen Stellen mit politischen Fragen, mit Grundrechten, mit Menschenrechten.
Ist die Blockade des Budgets von Frontex im Parlament dann die richtige Maßnahme, um Reformen anzustoßen?
Das ist eigentlich die falsche Frage, denn es ist im Grunde die einzige Möglichkeit, die das Parlament hat. Sie können der Agentur den Geldhahn zudrehen. Ich glaube, das ist ein Versuch, die Agentur unter Druck zu setzen, bei den Untersuchungen zu kooperieren und Transparenz herzustellen. Ein Warnschuss für die Agentur.
Ein Warnschuss ist aber noch keine Reform. Wo müsste man ansetzen, um Veränderungen anzustoßen?
Eine Möglichkeit wäre, den Direktor auszuwechseln, der in die Vorwürfe verwickelt ist. Darauf könnte der Aufsichtsrat der Agentur drängen. Ich glaube, da wird noch auf die Ergebnisse der laufenden Ermittlungen gewartet.
Eigentlich müsste die Europäische Union aber das Prinzip der Agenturen grundsätzlich überdenken. Für das europäische Projekt waren Exekutiv-Agenturen wie Frontex ein Quantensprung. Grundsätzlich finde ich es auch richtig, dass man in Europa nicht einfach den Gründungsprozess der Vereinigten Staaten von Amerika versucht hat nachzuempfinden, sondern nach anderen Formen gesucht hat. Aber eine gemeinsame Grenzschutzpolizei voranzutreiben ohne die verfassungsrechtlichen Ebenen zu berücksichtigen ist ein großer Fehler gewesen.
Diese Überlegungen stehen aber zurzeit nicht auf der Agenda.
Müsste eine solche Initiative vom Parlament, der Kommission oder dem Rat ausgehen?
Eigentlich vom Europäischen Rat. Das würde aber wieder in Richtung einer neuen EU-Verfassung gehen, die ja in der Vergangenheit gescheitert ist. Die Bürgerbefragungen, die gerade starten, sind vielleicht eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, aber viele Mitgliedsstaaten wollen die Vorschläge aus diesen Versammlungen nicht als rechtlich bindend ansehen.
Auch im von der Kommission vorgestellten Pakt für Migration und Asyl steht zum Thema Grenzschutz nichts Neues.
Also keine Chance auf Veränderung?
Aus meiner Sicht gibt es noch eine Möglichkeit in der Agentur selbst. Frontex sammelt viele Daten, um vorhersagen zu können, wo und wie es an den EU-Außengrenzen zu irregulären Grenzübertritten kommt. Wenn man für diese Risikoanalyse auch Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und in die Analyse einfließen lässt, würde das enorm helfen. Denn noch kann man behaupten: „Wir wissen darüber nichts.“ Gäbe es den Auftrag für die Risikoanalyse, solche Vorgänge zu dokumentieren, könnte das langfristig die Arbeitsweise der Agentur verändern.
Könnten die Mitgliedsstaaten nicht einfach ihre Einsatzkräfte abziehen, die für Frontex im Einsatz sind?
Mit einem Aufbau von einem eigenen Frontex-Kontingent, wie es derzeit geplant ist, wäre dieses Druckmittel reduziert. Und für Länder wie Griechenland wäre es natürlich ein Affront. Trotzdem finde ich, dass es solche Diskussionen geben sollte. Denn die Mitgliedsstaaten sollten ihre völkerrechtliche Verantwortung auch im Einsatz ihrer Polizei an den europäischen Grenzen ernst nehmen.
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