Globalisierung neu denken: Wie eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik aussehen muss
Dirk Bleicker
Herr Horn, wir sind im Wahljahr. Wie sollte eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik ihrer Meinung nach aussehen?
Gustav Horn: Es müsste eine Wirtschaftspolitik sein, die auf den ersten Blick als sozialdemokratisch erkennbar ist. Eine Wirtschaftspolitik, die sich zwischen den verschiedenen Parteien kaum unterscheidet, führt dazu, dass Menschen sich von den etablierten Parteien abwenden, weil sie den Eindruck haben: Die sind sich ja eh alle einig und sagen alle das Gleiche. Das ist Nährboden für Populisten.
Im Zeitalter weltwirtschaftlicher Integration muss diese Wirtschaftspolitik dafür sorgen, dass im globalen Handeln soziale Errungenschaften Standard werden. Das ist eine historische Aufgabe, die das Markenzeichen einer SPD-Wirtschaftspolitik sein könnte.
Thorsten Schäfer-Gümbel: Das teile ich. Wachsende Ungleichheit verhindert Wohlstand und Wachstum. Es ist völlig richtig, den Anspruch zu formulieren, dass sozialdemokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik eben auch die soziale und ökologische Dimension einer wirtschaftlichen Entwicklung einbeziehen muss. Die öffentliche Hand darf nicht nur regulieren, sie muss auch gestalten, beispielsweise bei Wohnungsbau, Bildung, Sicherheit und Daseinsvorsorge.
Das sind Fragen, die in unserem SPD-Wahlprogramm auch in einem europäischen Kontext formuliert werden. Die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt wird ohne internationale Einbindung und Berücksichtigung dessen, was um das Land herum passiert, in Zukunft nicht erfolgreich sein können.
Werfen wir zunächst einen Blick auf Deutschland. Der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht kam u.a. zu dem Ergebnis, dass die Reallohneinkommen der unteren 40 Prozent der Beschäftigten in den vergangenen zwanzig Jahren gesunken sind. Was lässt sich dagegen tun?
Schäfer-Gümbel: Wir haben ein Kernproblem. Der Anteil der tariflich gebundenen Betriebe und Unternehmen geht deutlich zurück. Deshalb steht auch ganz klar in unserem Wahlprogramm, dass wir eine Stärkung der Tarifbindung brauchen. Das gilt vor allem für weite Teile des Dienstleistungssektors. Gute Tarifverträge bedeuten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Zusammen mit dem Mindestlohngesetz haben wir die Möglichkeit, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu machen, erleichtert. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Tarifflucht muss verhindert werden.
Horn: Dass in den vergangenen Jahrzehnten die Reallöhne der untersten Lohngruppen gesunken sind, hat auch viel mit Globalisierung und internationalem Handel zu tun. Wir wissen mittlerweile, dass gerade diejenigen, die am Arbeitsmarkt eine schwache Verhandlungsposition haben durch die Globalisierung noch weiter gedrückt wurden.
Im europäischen Kontext müssen wir uns auch auf eine Art von gemeinsamer Lohnfindung in den Mitgliedsstaaten verständigen, um Lohndumping zu vermeiden. Das ist ein Wettbewerb, der absolut unproduktiv ist. Letzteres bringt nichts an Innovation, nichts an Produktivitätsfortschritten, nur eine Spirale nach unten für Arbeitnehmer.
Schäfer-Gümbel: An einer Stelle möchte ich widersprechen: Nicht die Globalisierung ist verantwortlich für diese Entwicklung, sondern ein marktradikales Verständnis von Wettbewerb, das die Globalisierung missbraucht, um Lohndrückerei und Sozialabbau zu begründen. Unsere Antwort muss sein: eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die über den nationalen Tellerrand schaut.
Europa ist ein wesentlicher Teil der Lösung. Aber auch hier findet ein Meinungskampf zwischen Konservativen, Liberal-Demokraten, Sozialdemokraten und anderen fortschrittlichen Kräften über die Frage statt, was die richtige Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist.
Horn: Der Kern der Strategie ist, die Globalisierung im Sinne der Beschäftigten zu nutzen. Weil es in der Vergangenheit eine Politik gab, die keine Rücksicht darauf genommen hat, dass die Interessen der Beschäftigten angemessen vertreten wurden, hat es diesen Missbrauch tatsächlich gegeben. Das Ergebnis ist, dass die Lohnspreizung so stark auseinander gedriftet ist. Das sagt selbst der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Larry Summers: Wir müssen die Globalisierung neu denken. Wir müssen die Globalisierung so denken, dass alle Bevölkerungsschichten von den Erträgen der Globalisierung angemessen profitieren.
Wie lässt sich das im europäischen Kontext lösen, wenn die nationalen Wirtschaften gegeneinander konkurrieren?
Schäfer-Gümbel: Indem Europa ernsthaft über die unterschiedlichen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen in Europa diskutiert und entscheidet. Denn es ist mitnichten so, dass es eine gemeinsame Grundhaltung darüber gibt, was die richtige Anti-Krisenpolitik ist. Es reicht nicht aus, ein paar Haushaltsausgabereste zusammenzukratzen, eine neue Überschrift drüber zu schreiben und zu glauben, dass man damit Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa bekämpft. So wird es nicht funktionieren.
Horn: Da ist die SPD nicht nur als mögliche Regierungspartei, sondern auch als eine zivilgesellschaftliche Kraft gefordert.
Bedeutet das auch ein Ende der einseitigen Sparpolitik?
Schäfer Gümbel: Man kann sich nicht aus einer Krise heraus sparen! Eine einseitige Sparpolitik ist immer falsch als Anti-Krisenpolitik. Wir brauchen Investitionen in Beschäftigung und Infrastruktur, in Ausbildung und in Bildung. Das ist keine sonderlich neue Erkenntnis, sondern eigentlich das kleine Einmaleins fortschrittlicher Wirtschafts- und Strukturpolitik seit vielen Jahrzehnten. Aber es ist in den vergangenen Jahren von Konservativen und Liberalen geblockt worden.
Der letzte wirklich große Entwurf in dieser Richtung war der unter Jaques Delors mit den transeuropäischen Netzen. Das war im Prinzip der letzte große Aufschlag, den es auf europäischer Seite gegeben hat. Sparkommissare wie Wolfgang Schäuble handeln allein aus nationalstaatlichen Interessen heraus und riskieren damit auch die Zukunft unseres eigenen Landes.
Horn: Ich erinnere mich genau an den Beginn der Krise des Euroraums Ende 2009, Anfang 2010. Da war der erste Ansatz: Jeder ist für sich selbst verantwortlich und wir geben nichts! Das sind nationale Probleme, zunächst von Griechenland, dann von Ungarn und Spanien, dann von Portugal. Damals war nicht vorstellbar, dass eine Europäische Zentralbank riesige Interventionen macht und Anleihen aufkauft, um Finanzmärkte zu stabilisieren. Das sind Erkenntnisse, die sich erst im Laufe der Zeit entwickelt haben.
Jede der einzelnen Regierungen betrachtet die Tendenzen immer aus ihrer nationalen Sicht. Aber wir haben keine Institution, die zum Beispiel die Finanzpolitik aus einer europäischen Sicht betrachtet. Das fehlt völlig. Es wäre die Aufgabe einer sozialdemokratischen Partei zu sagen, dass wir die demokratischen Institutionen aus europäischer Perspektive stärken müssen.
Schäfer-Gümbel: Alles richtig, wir wissen aber beide, es wird ein langer Weg, den man jedoch gehen muss. Und er sollte uns an einer Stelle den Blick nicht verstellen: Wenn Angela Merkel 2009/2010 sich nicht in ihrer ideologischen Grundhaltung verrannt hätte, wäre die Krise erstens nie so groß, zweitens wäre sie nie so teuer geworden und hätte auch nicht so viele Menschen in Europa ins Elend gestürzt.
Brauchen wir mehr Europa?
Schäfer-Gümbel: Ja, aber das richtige Europa! Europa wird häufig verantwortlich gemacht für Probleme in den Nationalstaaten, die auch deswegen entstehen, weil die Nationalstaaten sich umgekehrt wiederum weigern, sich im europäischen Kontext an einer Lösung zu beteiligen. Das ist ein klassisches Henne-Ei-Problem. Deswegen muss man den Nationalisten, den Vereinfachern entschieden entgegentreten und ihnen erklären: Europa ist Teil der Lösung, aber es bedeutet eben auch europäische Politik, die man zulassen muss.
Horn: Wir müssen die Rechte des Europäischen Parlaments massiv stärken. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass man auch wieder Vertrauen gegenüber den europäischen Institutionen erzeugt. Das ist eine historische Aufgabe. Aber wenn die SPD sich dieses historische Anliegen zu eigen macht und vorneweg geht, ist der Erfolg möglich. Gerade in dieser Zeit, wo wir in Deutschland geradezu belagert werden von politischen Tendenzen, die das Heil wieder im Nationalen suchen, müssen Sozialdemokraten einen markanten Gegenkurs einschlagen, der zeigt, dass Sozialdemokraten eigentlich schon immer Internationalisten waren.
Schäfer-Gümbel: Da habe ich große Hoffnung. Mit Martin Schulz haben wir einen so überzeugten Europäer an unserer Spitze, wie wenig andere in der bundesdeutschen Politik.
Ein weiteres Interview mit Thorsten Schäfer-Gümbel und Gustav Horn lesen Sie hier: SPD diskutiert über Gerechtigkeit: Steuerdumping schafft keinen Wohlstand
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hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.