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Gescheiterte Utopie: Wie Europa jetzt neu erfunden werden kann

Wirtschaftliche Besessenheit und Demokratiedefizit – die Europäische Union als politisches Projekt ist gescheitert. Höchste Zeit, an die Zukunft zu denken.
von Camille de Toledo · 3. Dezember 2015

Europa muss heute neu erfunden werden. Seit 1945 ist es auf dem Andenken gebaut, auf einer Vergangenheit, die es hinter sich lassen wollte. Im Laufe der Jahre hat es dann seine Ideale hintenangestellt und sich auf den Markt konzentriert. Von einem politischen Projekt ist Europa zu einer wirtschaftlichen Plattform geworden, zu einem Versuchsort, um sein Monopol auszuweiten.

Die Wahlen des Europäischen Parlaments seit den 1970ern haben das Demokratiedefizit nicht verringert. Sie haben es nur betont. Seit 1989 werden die Identitäten, die nationalen und regionalen Besonderheiten, immer ausgeprägter – oft, indem Europa Asien, Afrika und der Migration aus dem Mittelmeerraum gegenübergestellt wird. Schengen ist das Ergebnis dieser Festung Europa. Die Toten an den Grenzen sind das Ergebnis dieser Dystopie.

Illusion des Friedens

Heute gewinnen die Parteien der extremen Rechten mehr und mehr Sitze in Brüssel hinzu – in einem Parlament, welches doch für das Versprechen steht, die Nationen zu überschreiten. Auf einen islamistischen Terroranschlag wie am 13. November in Paris wird mit sicherheits- und identitätsbezogenen Umtrieben geantwortet. Oder schlimmer, mit einem Massenmord der extremen Rechten, wie wir es in Oslo und Utoya in Norwegen erlebt haben. Die spiegelverkehrte Logik des Dschihads und des Kreuzzugs gewinnt an Boden: Sie erinnert Europa an die Gewalt, an die Illusion des Friedens. Und wie reagiert die Europäische Kommission? Sie setzt die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen (TTIP) mit den USA fort, welches die Kultur und die Umwelt bedroht, sowie die Handlungsfähigkeit der Politik schwächt.

In unseren Augen ist dieses Europa der wirtschaftlichen Besessenheit, welches von Menschen wie Jean Monnet und Jacques Delors ersonnen wurde, tot. Es tendiert zur Dystopie – und wir können es leider nicht ändern. Die Staatsschuldenkrise in Griechenland hat das genügend bewiesen. Es gibt keine Alternative in diesem Brüsseler Theater. Dieses Europa träumt immer noch davon, der Gewalt, seiner Vergangenheit, zu entkommen und bedient sich der Schulden, um Völker in die Knie zu zwingen – was im Gegenzug populistische, volkstümliche oder identitäre Reaktionen hervorruft.

Das Brüsseler Theater lassen

Deshalb schlagen wir schon jetzt vor, 20, 30 Jahre in die Zukunft zu denken, für die Kinder der Welt von morgen. Deshalb schlagen wir vor, dieses Brüsseler Theater zu lassen und Europa neuzuerfinden, rund um eine Staatsbürgerschaft der Übersetzung, jenseits der Nationen; eine Öffentlichkeit der Unterschiede, der Vielfältigkeit, eine Politik der zahlreichen Wohnsitze weltweit, übergreifend. Dort brauchen wir Künstler, Schriftsteller, Philosophen, um die Zukunft vorzubereiten. Denn nach den Attentaten in Paris – wo wir wieder einmal die Kinder, die fröhliche, bunt gemischte Jugend unserer Städte haben sterben sehen – kann das Gebot, das Europa des 21. Jahrhunderts festzulegen, nicht länger warten.

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Autor*in
Camille de Toledo

ist ein französischer Schriftsteller und Künstler. 2008 gründete er zusammen mit Maren Sell die Europäische Autorengesellschaft (Société européenne des auteurs, SEA), um Kultur über Sprachgrenzen hinweg zu fördern. Sein aktuelles Projekt ist die Ausstellung Europa/Eutopia.

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