Geflüchtete in der Türkei: Von der Corona-Krise doppelt getroffen
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Erst einige Wochen ist es her, doch die Bilder scheinen aus einer andere Zeit: Am 27. Februar öffnete die Türkei für Flüchtlinge ihre Grenzen zur EU. Das türkische Fernsehen zeigte von da an in Dauerschleife, wie Tausenden versuchten, die türkisch-griechische Grenze zu überqueren. Doch dann kam Corona, am 10. März wurde der erste offizielle Fall in der Türkei bekanntgegeben. Und in der türkischen Öffentlichkeit interessierte sich fast niemand mehr für das Schicksal dieser Menschen – ebenso wenig wie in Europa.
Nur wenige türkische Zeitungen meldeten Ende März in einer Randnotiz, dass einige Tausend Menschen, die noch an der Grenze ausgeharrt hatten, mit staatlichen Bussen abgeholt worden waren. Sie wurden in Wohnheime und Abschiebelagern im ganzen Land gebracht, um dort zwei bis drei Wochen in Quarantäne zu bleiben. Im April schlug die Anwaltskammer Izmir Alarm: im Abschiebelager Harmandali seien 30 Flüchtlinge und ein Wärter positiv auf Corona getestet worden. Die hygienischen Zustände seien mangelhaft, die Kranken bekämen kaum medizinische Versorgung. Der Gouverneur der Provinz bestritt die schlimmen Zustände, bestätigte aber die Corona-Fälle.
Katastrophela Zustände auf beiden Seiten der EU-Grenze
Wer schließlich aus der Quarantäne entlassen wurde, stand vor neuen Problemen. Die Migrant*innen wurden in verschiedene Landesteile gebracht, einigen von ihnen Abschiebedokumente in die Hand gedrückt. Psychologisch und wirtschaftlich gehe es ihnen miserabel, erklärt Yasar Muhammed Siddik, der mit der Initiative „Tarlabasi Solidarität“ bedürftigen Migranten in Istanbul hilft: „Sie wurden mit falschen Versprechungen an die Grenze gelockt, haben dafür ihre Wohnungen, Möbel und Arbeit aufgegeben.“ Wer es auf die griechische Seite schaffte, sei dort misshandelt, beraubt und anschließend unrechtmäßig zurück auf die türkische Seite geschickt worden, dokumentierten Yasar und sein Team. Zurück in Istanbul seien dann viele der Flüchtlinge obdachlos geworden. Yasars Verein organisierte für hunderte von ihnen Wohnungen. Arbeit zu finden sei angesichts der Epidemie unmöglich. „Ohnehin trauen sich vor allem afrikanische Flüchtlinge kaum noch auf die Straße. Viele Nachbarn glauben, sie würden den Virus übertragen“, so Yasar. Nicht wenige seien aus ihren Unterkünften geworfen worden.
Ähnliches berichtet Durmamad Salehi, der im nordtürkischen Trabzon einen afghanischen Selbsthilfeverein betreibt. „Durch Corona sind die meisten von uns arbeitslos, auch diejenigen, die gar nicht erst versucht haben, in die EU zu gelangen. Sie kämpfen ums Überleben“, so Salehi. Man helfe sich gegenseitig so gut es gehe. Staatliche Unterstützung gebe es fast nicht, wer Glück habe bekäme einmal im Monat ein Lebensmittelpaket von der Stadtverwaltung.
Schätzung: Eine Million Geflüchtete nicht registriert
Afghanen bildeten die größte Gruppe der Menschen, die im Frühjahr versuchten die Grenze zu überqueren. Dazu kamen Menschen aus Pakistan, Irak, Iran und afrikanischen Ländern, die meisten von ihnen junge Männer. Syrer bildeten nur einen geringen Anteil, vermutlich weil ihre Lage in der Türkei etwas besser ist als der anderen Migranten. 3,6 Millionen Syrer stehen in der Türkei unter vorübergehendem Schutz, haben ein Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung und Bildung, sind bei Hilfsorganisationen registriert. Viel alarmierender ist hingegen die Lage der Migrant*innen ohne legalen Status, erklärt Migrationsforscher Prof. Murat Erdogan von der türkisch-deutschen Universität Istanbul. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren rasant angestiegen. Laut der Einwanderungsbehörde wurden allein im vorigen Jahr 454.000 irreguläre Einwanderer gefasst, davon 200.000 Menschen aus Afghanistan. Migrationsforscher Erdogan schätzt, dass insgesamt wohl eine Million Menschen ohne legalen Status in der Türkei leben. Sie arbeiten in der Regel schwarz; jetzt in der Corona-Krise haben sie weder Anrecht auf Kurzarbeit noch auf soziale Hilfen. Zwar hat die Regierung die Corona-Behandlung für kostenlos erklärt, „doch die meisten Menschen ohne legalen Status trauen sich nicht ins Krankenhaus, weil sie fürchten, dort aufzufliegen“, erklärt Murat Erdogan.
Zugleich betont er, dass die Corona-Krise nicht nur die Flüchtlinge hart trifft. Tatsächlich leiden auch viele Türk*innen derzeit unter Massenarbeitslosigkeit und dem Mangel an sozialen Hilfen. Die Türkei steckte schon vor Corona in einer schweren Wirtschaftskrise. In Zeiten der Pandemie hat die Regierung daher nur wenig finanziellen Spielraum, um den Menschen zu helfen. Die enorme Zahl an Flüchtlingen überfordert zusätzlich. „Da helfen die wenigen Milliarden aus dem EU-Flüchtlingsdeal kaum“ betont der Professor. Dabei gehe es nicht nur um viel Geld, sondern um eine immense gesellschaftliche Herausforderung. Die Arroganz und Ignoranz der EU-Länder in der Flüchtlingsfrage entsetze ihn.
Rassismus gegenüber Geflüchteten nimmt zu
Umfangreiche Studien des Migrationsforschers belegen, dass mit wachsender Krise die Ressentiments gegen Flüchtlinge in der Türkei steigen. Immer mehr Türk*innen fürchten, dass die Flüchtlinge ihnen die Arbeit wegnehmen oder dem Staat massiv auf der Tasche liegen. Die Grenzöffnung habe die schlechte Stimmung noch einmal verstärkt, beobachtet auch Sozialarbeiter Yasar: „Viele Türken waren froh, dass die Flüchtlinge gingen, und als sie zurückkamen, sagten viele Nachbarn: ‚Was habt ihr hier noch zu suchen?‘.“
Allerdings hat sich die Grenzöffnung für Ankara als effektives Ventil erwiesen. „Erdogan konnte damit die Tagesordnung eine Weile ändern, von politischen Problemen ablenken und die Bevölkerung beruhigen. Deshalb wird der Staatspräsident in Zukunft immer wieder zu diesem Mittel greifen“, glaubt Migrationsforscher Erdogan. Solange sich Europa weigert, Menschen auf der Flucht eine humane Perspektive zu bieten, könnten Flüchtlinge erneut zum politischen Spielball werden. Beschämend – für beide Seiten.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.