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Geflüchtete aus der Ukraine: „Es ist eine andere Situation als 2015“

Millionen von Menschen sind bereits vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. Die Vorsitzende der S&D-Fraktion im Europarlament, Iratxe García Pérez, sieht die EU gut vorbereitet. Sie setzt auf einen Durchbruch für eine gemeinsame Asylpolitik.
von Kai Doering · 21. März 2022
Iratxe García Pérez: Die EU muss eine echte und umfassende gemeinsame Asylpolitik auf den Weg bringen.
Iratxe García Pérez: Die EU muss eine echte und umfassende gemeinsame Asylpolitik auf den Weg bringen.

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Haben Sie jemals erwartet, Zeugin eines Krieges im Herzen Europas zu werden?

Der Krieg in der Ukraine ist für Europa der schlimmste Moment der letzten Jahrzehnte. Putin kämpft gegen Europa! Vor vier Wochen hätte sich niemand eine solche Situation vorstellen können. Es ist schrecklich, die Bilder aus der Ukraine zu sehen, wo jeden Tag unschuldige Menschen sterben. Dennoch bin ich erleichtert darüber, wie die Europäische Union auf diese Drohung reagiert hat.

Nämlich?

Europa ist geeint und unsere gemeinsamen Werte sind wichtiger denn je. Es hat gut getan zu sehen, dass die europäischen Länder sehr schnell mit Sanktionen gegen Russland reagiert und den Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen haben. Wir müssen einig sein, denn Putin greift nicht nur die territoriale Integrität der Ukraine an, er greift Freiheit und Demokratie von uns allen an. Sein Krieg ist ein Krieg gegen europäische Werte. Daher ist die einzige Antwort unsere Einheit, die uns stärker macht. Wir ergreifen gerade unterschiedliche Maßnahmen und unser wichtigstes Ziel ist es, diesen schrecklichen Krieg zu beenden.

Was kann die EU überhaupt ausrichten?

Wir müssen den Dialog fortsetzen, um eine diplomatische Lösung zu finden, und gleichzeitig die Menschen in der Ukraine unterstützen. Die Ukrainer verteidigen nicht nur ihr Land, sondern auch unsere europäischen Werte, und sie brauchen dabei unsere volle Unterstützung.

Wie kann das Europäische Parlament sie unterstützen?

Zunächst einmal müssen wir die Einheit innerhalb der Europäischen Union wahren. Das ist unsere Aufgabe als Vertreter aller europäischen Länder. Vor wenigen Tagen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video im Europäischen Parlament gesprochen. Er hat uns eine starke Botschaft übermittelt, die viele Abgeordnete sehr berührt hat. Wir haben bereits wichtige Sanktionen gegen Präsident Putin und die ihm nahestehenden russischen Oligarchen erlassen, weil dies ein entscheidender Faktor sein könnte, um diesen Krieg zu beenden. Abgesehen davon sind auch weitere Sanktionen gegen die russische Wirtschaft sehr wichtig. Auch „Nordstream 2“ zu stoppen war eine gute Entscheidung und ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Schritt gegangen ist.

Millionen von Flüchtlingen sind bereits aus der Ukraine in die Europäische Union eingereist. Es dürften noch deutlich mehr werden. Ist die EU darauf vorbereitet?

Ja, wir bereiten uns vor. Ich erlebe viel Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Es ist eine andere Situation als bei der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als die Europäische Union keine gemeinsame Antwort fand. Wir Sozialdemokrat-innen haben bereits damals eine solidarische gemeinsame Migrations- und Asylpolitik gefordert, aber wir waren damals nicht stark genug. Heute, in der aktuellen Situation, haben wir mehr Argumente, um unsere Position durchzusetzen. Jetzt verstehen alle Länder, warum Solidarität wichtig ist und dass wir alle als Europäer helfen müssen. Wir sollten diese Dynamik nicht nur nutzen, um die aktuelle Situation zu lösen, sondern auch, um eine gemeinsame Politik zu etablieren, die die EU braucht.

Was meinen Sie konkret?

Etwas, das wir als S&D-Fraktion seit Jahren fordern: Die EU muss eine echte und umfassende gemeinsame Asylpolitik auf den Weg bringen. Die Kommission hat ihre Vorschläge dazu bereits im neuen Migrationspakt vorgelegt, und wir müssen jetzt die Verhandlungen, die zu lange stocken, beschleunigen. Die aktuelle Situation kann nicht von nur wenigen Ländern gelöst werden. Eine gemeinsame europäische Antwort ist dringend notwendig.

Haben Sie Angst vor einem Zwei-Klassen-System von Flüchtlingen aus der Ukraine auf der einen und Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, auf der anderen Seite?

Das dürfen wir nicht zulassen! Das würde unseren Werten und den Grundrechten widersprechen, die wir in der Union haben. Es ist eher ein weiteres Argument dafür, warum wir eine kohärente Strategie für alle Flüchtlinge brauchen, die nach Europa kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Länder im Süden Europas seit Jahren viele Flüchtlinge aufnehmen. Sie brauchen dieselbe Unterstützung und Solidarität, die Polen und Ungarn jetzt brauchen. Daher hoffe ich, dass der Rat jetzt den Migrationspakt annehmen wird, einschließlich eines Solidaritätsmechanismus, damit kein Mitgliedstaat wegen seiner geografischen Lage allein gelassen wird. Alle Außengrenzen sind EU-Grenzen.

Die Ukraine will Mitglied der Europäischen Union werden. Ursula von der Leyen hat sie bereits herzlich willkommen geheißen. Wann kann dieser Traum Wirklichkeit werden?

Alle europäischen Länder haben das Recht, der Europäischen Union beizutreten. Die Ukraine ist ein großes Land im Herzen Europas, daher begrüße ich es, dass sie Mitglied werden möchten. Aber natürlich müssen sie alle Kriterien erfüllen, die jeder Mitgliedsstaat vor einem Beitritt erfüllen muss.

Andere Länder wie Albanien oder Moldawien haben sich bereits früher um eine EU-Mitgliedschaft beworben. Wird es nun ein Ranking geben, um Mitglied zu werden?

Nein, auf keinen Fall. Wir müssen die Situation in jedem dieser Länder verstehen, und die ist sehr unterschiedlich. Alle Länder, die sich bewerben, müssen dieselben Kriterien akzeptieren, da hilft eine Rangfolge nicht weiter. Die Botschaft ist klar: Wir sind offen, und jeder hat das Recht, sich zu bewerben.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat die aktuelle Situation vor einigen Wochen als „Zeitenwende“ für die deutsche Politik bezeichnet. Was bedeutet das für Europa?

Dies ist ein historischer Moment und zweifellos entscheidend für unsere Zukunft. Wenn wir von einer Zeitenwende in Europa sprechen, müssen wir über eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Außenpolitik sprechen. Manchmal können schwierige Situationen zu Chancen werden. Das haben wir schon während der Corona-Krise gemerkt, als wir gemeinsam wegweisende Entscheidungen getroffen haben. Ich hoffe sehr, dass wir als Europäer auf die Bedrohung durch Putins Krieg reagieren können, indem wir eine stärkere Union werden.

Ist es ein Unterschied, dass der deutsche Bundeskanzler Teil der S&D-Familie ist?

Natürlich! Der Sieg der SPD in Deutschland und die neue fortschrittliche Regierung stärken unsere politische Familie in ganz Europa. Die Regierung von Olaf Scholz ist klar proeuropäisch ausgerichtet. Mit progressiven Regierungen unter anderem in Deutschland, Portugal, Spanien und den skandinavischen Ländern gibt es eine Dynamik, um ein besseres und gerechteres Europa aufzubauen.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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