Gabriel: Wir müssen TTIP entmystifizieren
"Es gibt keinen Weg zurück in die Ära der alten Industriegesellschaft und der Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts. Die große Aufgabe des 21. Jahrhunderts lautet, die Globalisierung durch demokratische Politik zu gestalten", so steht es im Grundsatzprogramm der SPD. Als wir das 2007 beschlossen haben, wussten wir: Spielregeln für die Globalisierung zu schaffen, wird nicht leicht sein. Es wird nicht schnell gelingen. Es braucht dafür viele kleine Schritte.
Niemand weiß heute, ob ein Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA am Ende ein solcher Schritt für diese Gestaltung der Globalisierung sein wird. Aber ebenso sicher ist: Ohne Vereinbarungen zwischen Europa und den USA wird die Gestaltung der Globalisierung zu mehr Nachhaltigkeit nicht gelingen. Wenn Europa nicht einmal den Versuch unternimmt, werden in wenigen Jahren andere die Spielregeln bestimmen. Die USA werden immer noch dabei sein, nur Europa nicht. Stattdessen werden die großen Wirtschaftsräume Asiens – allen voran China – Richtung und Tempo der Globalisierung bestimmen. Europa hat vermutlich das letzte Mal die Chance, weltweite Standards zu setzen. Verpassen wir diese Chance, werden wir uns anpassen müssen.
Ein Freihandelsabkommen darf nicht um jeden Preis geschlossen werden. Aber sich Verhandlungen zu verweigern, kann nicht die richtige Alternative sein. Wer das fordert, sollte nirgendwo die Illusion verbreiten, dass eine Gestaltung der Globalisierung zu mehr wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit eine Chance hätte. Statt scheinbar rigorose Klarheit durch Ablehnung jeder Verhandlungen, plädiere ich für die mühselige Arbeit der Politik: Schritt für Schritt klären, ob man zu vertretbaren Ergebnissen kommt. Erst gar nicht zu verhandeln heißt, schon den Versuch der politischen Gestaltung aufzugeben. Das ist das Gegenteil von Politik. Das war in 151 Jahren nie der Weg der Sozialdemokratie. Allerdings gibt es auch Gründe für das weit verbreitete Misstrauen. Wer quasi "Geheimverhandlungen" führt, muss sich nicht wundern, dass jedes Gerücht geglaubt wird. Selten habe ich so viele Halb- und Unwahrheiten gelesen wie über TTIP. Von den Chlorhühnchen, die angeblich massenhaft in die EU importiert werden, bis zum Glauben, ein Investitionsschutzabkommen könnte deutsche Gesetze oder gar die Verfassung aushebeln.
Einen fairen Dialog führen
Wir müssen TTIP entmystifizieren und über den Kern der Sache streiten: Offen und ehrlich und mit Respekt vor anderen Auffassungen. Das Ziel von TTIP ist der Abbau von Zöllen und sonstigen Handelshemmnissen. Ich kenne niemanden, der Zölle sinnvoll findet. Sie machen Importe wie Exporte teurer und belasten die Verbraucher durch höhere Preise. Allein für die deutsche Automobilindustrie geht es um eine Milliarde Euro pro Jahr – Geld, das auch sinnvoll in die Elektromobilität investiert oder über höhere Löhne an die Beschäftigten weitergegeben werden könnte. Bei den sonstigen Handelshemmnissen geht es etwa darum, dass sich deutsche Unternehmen an Ausschreibungen in den USA beteiligen können – wie es amerikanische schon lange bei uns können. Häufig ist der Abbau von Handelshemmnissen schlicht der Abbau von unnützer Bürokratie: Wenn man sich auf gemeinsame Zulassungsverfahren für Autos einigt und dabei die jeweils höchsten Sicherheitsstandards anlegt, lässt sich viel Aufwand sparen.
Um mit TTIP-Gegnern wie -Befürwortern einen fairen Dialog zu führen, habe ich einen Beirat im Wirtschaftsministerium eingerichtet. Dort berate ich mit Vertretern der Gewerkschaften, der Umwelt- und Verbraucherverbände, der Wirtschaft, der Kirchen und aus der Kultur über den Fortgang der Verhandlungen. Für mich als Wirtschaftsminister und Parteivorsitzender ist klar: Ein Freihandelsabkommen mit den USA kann es nur dann geben, wenn vier klare Bedingungen erfüllt sind:
1. Keine Verschlechterung unserer Standards, weder im Bereich Verbraucher-, Umwelt- oder Datenschutz, noch bei Arbeitnehmerrechten und Mitbestimmung. Wir müssen im Gegenteil dafür sorgen, dass unsere hohen Standards auch in anderen Teilen der Welt gelten. Nur so kann die Globalisierung gerechter werden.
2. Das bewährte System unserer Daseinsversorge darf nicht angetastet werden. Selbstverständlich muss es auch weiterhin kommunale Krankenhäuser, Wasserwerke und Stadtwerke geben.
3. Keine Abschaffung der Subventionen für Theater und Museen, Beibehaltung der Buchpreisbindung, kein Rütteln am öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
4. Es wird kein Freihandelsabkommen geben, bei dem rechtsstaatlich getroffene, demokratisch legitimierte Entscheidungen von Parlamenten, die dem Allgemeinwohl dienen, durch internationale Konzerne vor Schiedsgerichten angegriffen werden können.
Jetzt laufen die Verhandlungen. Am Ende entscheiden nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch Bundestag und Bundesrat. Ich weiß nicht, ob die Verhandlungen zum Erfolg führen. Aber ich bin sicher: Wenn wir gar nicht erst verhandeln, vertun wir die Chance, die Globalisierung zumindest in einem ersten Schritt zu gestalten. Und Feigheit war noch nie sozialdemokratisch.
Hier finden Sie die Gegenposition von Christoph Bautz.