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Freiwillige Helfer der SeaWatch werfen der EU Untätigkeit vor

Das Mittelmeer wird nicht erst zum Massengrab, es ist längst eines. Jährlich sterben mehrere Tausend Menschen auf ihrer Flucht nach Europa, Tendenz steigend. Das Projekt „SeaWatch“ will helfen. Die Aktivisten kritisieren das Vorgehen der EU scharf.
von Robert Kiesel · 15. Juli 2015
SeaWatch
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Eigentlich müsste Harald Höppner vor Stolz fast platzen. Soeben ist er an Bord seines auf den Namen „SeaWatch“ getauften Fischkutters im italienischen Lampedusa angelandet, die Bilanz der vergangenen Tage kann sich sehen lassen: In einer Woche auf See brachten Höppner und seine Crew rund 600 auf Schlauchbooten über das Mittelmeer treibende Menschen in Sicherheit, retteten einige von ihnen aus akuter Seenot. Weil der Crew die mitgeführten Rettungsinseln ausgingen, musste das Schiff zurück in den Hafen. „Dass unsere Crew seit sechs Tagen im Dauereinsatz ist, zeigt, dass wir hier genau richtig sind“, erklärt Höppner. Es zeige aber auch, dass „die Europäische Union ihre Verantwortung bei der Seenotrettung nicht wirklich ernst zu nehmen scheint“.

SeaWatch-Crew fühlt sich allein gelassen

Und genau deshalb ist Höppner nicht stolz, sondern sauer. Stinksauer: „Wir fühlen uns von der Europäischen Union und der Bundesregierung im Stich gelassen. Es kann nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft sein, die Seenotrettung zu übernehmen“, so der Privatretter. Höppner zufolge war die SeaWatch zeitweise das einzige Schiff überhaupt, welches vor der Libyschen Küste zur Rettung Schiffbrüchiger zur Verfügung stand. Es stelle sich die Frage, wo die Schiffe der mit knapp drei Millionen Euro monatlich ausgestatteten EU-Mission „Triton“ eigentlich seien. „Wir sehen sie hier nicht“, so SeaWatch-Skipper Ingo Werth.

In gewisser Weise ist es der Erfolg der eigenen Mission, der den Aktivisten an Bord der SeaWatch die Laune verhagelt. Die vor Ort empfundene Gleichgültigkeit, mit der die zu Tausenden über das Mittelmeer flüchtenden Menschen scheinbar sich selbst überlassen werden, zerrt an den Nerven der freiwilligen Helfer um Harald Höppner.

Anpacken statt wegschauen

Dieser hatte das Projekt im Herbst 2014 aus der Taufe gehoben. Flüchtlinge retten im Mittelmeer, anpacken statt wegschauen, Öffentlichkeit schaffen für die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg, so der Plan des in Brandenburg lebenden Unternehmers. Umsetzen wollte er diesen an Bord eines alten Fischkutters, ausgerechnet. Höppner investierte, zahlte 60 000 Euro für das Schiff und noch mal so viel für dessen Aufrüstung. Eine Kampagne startete. Heute folgen der SeaWatch über 26 000 Menschen auf Facebook, von der taz bis zur FAZ und Günther Jauch berichteten nahezu alle großen Medien über das Projekt. Eine Fortsetzung der zunächst bis September befristeten Mission der SeaWatch scheint derzeit nicht unwahrscheinlich.

Dennoch, der Zorn ist groß. „Wir können nicht überall sein“, erklärt Ingo Werth, ehrenamtlicher Skipper der SeaWatch auf ihrer zweiten Tour zwischen Libyen und der italienischen Küste. Er beschreibt die Entdeckung eines sinkenden Schlauchboots, 116 Menschen an Bord, darunter ein Schwerverletzter. „Hätten wir das Boot nicht gerade noch rechtzeitig gefunden, wäre vermutlich ein Großteil der Menschen ertrunken.“ Nicht nur Ingo Werth fragt sich: Wie viele Boote werden nicht mehr in letzter Sekunde entdeckt und sinken?

Passivität mit tödlichen Folgen

Es sind viele. Zwar gehen die Schätzungen über die Zahl der allein im ersten Quartal 2015 auf dem Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge auseinander – sie liegen zwischen 900 und 1750 Menschen – in der Tendenz jedoch steigt sie stark an. Und die Dunkelziffer, darin sind sich alle einig, dürfte die „gesicherten“ Zahlen um ein Vielfaches überragen. „Diese Menschen können nur gerettet werden, wenn aktiv gesucht wird“, erklärt Ingo Werth. Der proaktive Ansatz jedoch werde von den institutionalisierten Programmen vernachlässigt. „Wir fragen uns: Was passiert mit den nach den Bootskatastrophen im April erhöhten Mitteln für die Frontex Mission Triton, wo sind deren Schiffe?“. Antworten darauf haben Harald Höppner und seine Begleiter in den vergangenen Tagen auf See zumindest schmerzlich vermisst.

Doch sie machen weiter. Aktuell wird die SeaWatch für ihren nächsten Einsatz vorbereitet, Rettungsinseln müssen beschafft werden, neue Aktivisten kommen, andere gehen. Gemeinsam wollen sie so schnell wie möglich zurück auf das Mittelmeer. Der jüngste Einsatz hat eines ganz deutlich gezeigt: Jeder Tag ohne die SeaWatch erhöht für die Flüchtlinge die Gefahr, von der Öffentlichkeit unbemerkt im Mittelmeer zu ertrinken.

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Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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