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Frans Timmermans: „Diese Europawahl wird ein Kampf um die Seele Europas“

Am Wochenende wurde Frans Timmermans zum Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten gewählt. Im Interview sagt der Niederländer, was ihm Europa bedeutet, warum seine Tochter mit dem Wort „Grenze“ nichts anfangen kann – und worüber die kommende Europawahl entscheidet.
von · 12. Dezember 2018

Sie sind ein überzeugter Europäer. Was genau bedeutet das überhaupt noch in einer EU, die so gespalten und uneins ist wie heute?

Jeder, der etwas von Geschichte versteht, weiß, dass bis vor 70 Jahren die meisten Streitigkeiten zwischen den europäischen Staaten noch auf den Schlachtfeldern ausgetragen wurden. Die Menschen haben dafür den Preis gezahlt. Heute lösen wir Meinungsverschiedenheiten am Verhandlungstisch. Ich bin davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Es ist leicht, von Spaltung und Unterschieden zu sprechen, in der Hoffnung, die Wählerinnen und Wähler an die Angst vor dem vermeintlich „Anderen“ zu ketten. Dabei haben wir in Wirklichkeit so viel mehr gemeinsam, als uns trennt. Egal woher wir in Europa stammen, wir teilen Hoffnungen und Träume. Und die EU ist die Garantie dafür, dass wir ein Leben in Freiheit und Sicherheit und frei von Diskriminierung führen können. Ich bin überzeugt, dass wir weiter zusammenarbeiten müssen, um dieses Versprechen an die Bürgerinnen und Bürger einzulösen.

Was ist Europa für Sie?

Mein Großvater, ein niederländischer Bergmann, arbeitete mit deutschen Bergleuten in den 1930er Jahren. Sie waren seine Freunde. Sie sprachen „Koempel“ zusammen – nicht Deutsch oder Niederländisch,  sondern eine Sprache der Bergleute. Er arbeitete in Heerlen und manchmal auch jenseits der Grenze, wo auch immer grad Arbeit zu finden war. Einige Jahre später stand mein Großvater auf den höchsten Hügeln in Heerlen und sah, wie die Alliierten Aachen bombardierten, nicht weit entfernt, auf der anderen Seite der Grenze. Er hatte sein Leben seinen deutschen Freunden in den Kohle­minen anvertraut. Aber an diesem Tag war er froh darüber, dass die ­Alliierten zuschlugen. Die Geschichte zeigt, wie leicht gegenseitige Abhängigkeit und Vertrauen in Hass umschlagen können. Und jetzt, 70 Jahre weiter: Da erinnere ich mich daran, wie ich mit meiner Tochter das erste Mal von Heerlen nach Aachen mit dem Fahrrad gefahren bin. Als wir nach Deutschland hinein fuhren, sagte ich zu ihr: „Das ist die Grenze“. Die Frage, die meine Tochter mir daraufhin stellte, war für sie logisch, aber sie hätte sich für meinen Großvater verrückt angehört: „Papa, was ist eine Grenze?“ Das ist für mich Europa – von meinem Großvater, der Deutschland schlussendlich als Feind ansah, bis hin zu meiner Tochter, die in Europa nur Nachbarn und Freunde sieht.

Das europäische Projekt lebt auch davon, dass die jungen Menschen von heute es in die Zukunft tragen. Aber wie wollen Sie junge Leute von der Notwendigkeit dieses ­Projektes überzeugen?

Viele junge Menschen sind heutzutage politisch wirklich engagiert, aber auf andere Weise als zuvor. Sie sind oft sehr idealistisch und sind aber – anders als meine Generation – nicht unbedingt von politischen ­Ideologien angetrieben. Sie sind durch Ideale motiviert wie Fairness, Freiheit, Nachhaltigkeit. Wenn meine Generation versteht, dass man eine Gesellschaft auf diesen Idealen aufbauen kann, und wenn es uns gelingt unsere Werte und unsere Politik mit diesen Idealen zu verbinden, dann können wir junge Leute auch begeistern. Und sie motivieren, Teil unserer Bewegung zu sein, um zusammen unsere Gesellschaften zu verbessern.

Im Mai 2019 wird das Europäische Parlament neu gewählt. Sie haben über diese Wahl gesagt, es handele sich dabei um keine normale Wahl – warum?

Dies wird die wichtigste Europawahl seit 1979 sein. Es ist ein Kampf um die Seele Europas. Da gibt es Politiker, die sagen, dass wir Europa beschneiden und zu nationalem Denken, zu Nationalismus zurückgehen müssten. Wir müssen zeigen, dass das der falsche Weg ist. Dass wir für den Klimawandel, für die technologischen Umbrüche, für soziale Sicherheit und für ein instabiles internationales System gemeinsame Antworten und Lösungen brauchen. Wir müssen zeigen, dass die beste Alternative zum Status-Quo-Europa der Konservativen die Sozialdemokratie ist, nicht der Nationalismus.

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