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In Frankreich keine Sieger, nur Verlierer – vornean: die Demokratie

Politischer Erdrutsch bei der Parlamentswahl in Frankreich: Präsident Macron hat seine Mehrheit verloren – klar und deutlich. Das zweite zentrale Ergebnis: Erneut hat nicht einmal die Hälfte aller Berechtigten gewählt.
von Kay Walter · 20. Juni 2022
Schwere Schlappe: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat seine absolute Mehrheit in der Natioalversammlung klar verloren.
Schwere Schlappe: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat seine absolute Mehrheit in der Natioalversammlung klar verloren.

Frankreich ist zur Wahl seines Parlaments aufgerufen – und kaum jemand geht hin. Die Mehrheit der Bürger*innen erachtet die Wahl für nicht relevant genug, um überhaupt abzustimmen. Lag schon die Beteiligung am ersten Urnengang mit 47,5 Prozent auf einem historischen Tiefstand, steigerten die Stichwahlen das noch. Ein neuer historischer Tiefstand mit nur mehr 46 Prozent Beteiligung. Und dass, obwohl die beiden Hauptprotagonisten Macron und Mélenchon eine Schicksalswahl ausgerufen hatten. Erste Analysen legen nahe, dass vor allem die Jungen und die sozial Schwächeren der Abstimmung ferngeblieben sind.

Macron schwach, Mélenchon stark

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis wird das Macron-Lager in der Nationalversammlung, das Bündnis Ensemble (Zusammen) über 245 Sitze verfügen und damit die angestrebte absolute Mehrheit von mindestens 289 Mandaten deutlich verlieren. Das schlechteste Ergebnis für die Partei eines gerade erst wiedergewählten Präsidenten. Ein Debakel.

Das Linkbündnis NUPES von Jean-Luc Mélenchon wird stärkste Oppositionskraft mit jetzt 133 Abgeordneten. Bei der letzten Wahl kamen alle linken Parteien zusammen auf 72 Sitze. Das Ergebnis ist also fast eine Verdopplung. Mélenchon selbst wird dem Parlament nicht angehören. Er hatte nicht kandidiert. Von einer Mehrheit in der Nationalversammlung ist er (noch) weiter entfernt als Macron. Am Vorabend der Wahl hatte Mélenchon vor den Kameras des französischen Fernsehens gesagt: „Entweder bin ich morgen Abend Premierminister oder im Urlaub“. Es sieht nach letzterem aus. Es gilt als ausgeschlossen, dass Mélenchon Premier wird.

Rechtsradikale im Parlament verzehnfacht

Wem das noch nicht Drama genug war, muss auf Marine Le Pen schauen: Ihr rechtsextremer Rassemblement National (RN) schafft es auf 89 Sitze, wird nicht nur erstmals seit 1986 Fraktionsstärke erreichen, sondern sein Ergebnis mehr als verzehnfachen.

Keine Partei und auch kein Parteienbündnis ist in der Lage, eine tragfähige Mehrheit im Parlament herzustellen. Das hat es in Frankreich so noch nie gegeben. Seit der letzten Verfassungsreform 2002 hatten alle Präsidenten in der Nationalversammlung eine absolute Mehrheit. Die nun fehlende Präsidenten-Mehrheit ist für ein Land, dass so vollständig auf regierungsfähige Mehrheiten ausgerichtet ist, ein Schock, nachgerade unvorstellbar. Es gibt bislang keine Kultur des Kompromisses, gar einer lagerübergreifenden Zusammenarbeit. In Frankreich bricht notgedrungen eine neue Zeit an. Ob die einen gestärkten Parlamentarismus sieht bleibt abzuwarten.

Elisabeth Borne bleibt wohl Premierministerin

Die Partei mit der größten Anzahl von eigenen Abgeordneten innerhalb der jeweiligen Bündnisse ist Präsident Macrons LREM mit 161 Sitzen. Weil LREM damit allein 30 Abgeordnete mehr stellt als NUPES zusammengenommen, wird voraussichtlich die wiedergewählte Abgeordnete Elisabeth Borne von LREM Premierministerin bleiben.

Den größten Jubel gab es am Sonntagabend im Lager von Marine Le Pen. Hatte 2017 der sogenannte Sicherheitsgürtel gegen die Rechtsradikalen gehalten und ihnen nur 8 Mandate ermöglicht, hat dieses Mal nicht nur die Parteichefin ihr Mandat mit rund 62 Prozent direkt gewonnen. Die Partei hat 89 der 110 Stichwahlen, in der sie vertreten war, erfolgreich bestritten, egal ob gegen Kandidaten der Linken oder der bürgerlichen Mitte und das häufig mit Ergebnissen oberhalb von 60 Prozent. Auch das wird Frankreich nachhaltig verändern.

Republikaner als neue „Königsmacher“?

„Königsmacher“ könnten die 75 konservativen Abgeordneten der Republikaner werden, deren Partei noch vor wenigen Wochen bei der Präsidentschaftswahl unter ferner Liefen, genauer unter 5 Prozent landeten.

Laut Verfassung ernennt der Präsident den Premier. Er hat dabei die Mehrheit im Parlament zu berücksichtigen. Jean-Luc Mélenchon weiß natürlich um diese Verfassungswirklichkeit. Es scheint so, als habe er genau deshalb auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Von außen lässt sich der Präsident einfacher und fundamentaler angreifen als unter den Zwängen und Verantwortlichkeiten eines Abgeordneten. Das ist sein gutes Recht. Demokratieförderlich ist es nicht.

Der Präsident ist angeschlagen

Das Mélenchon-Lager konstatiert in ersten Stellungnahmen, Präsident Macron habe eine schwere Schlappe hinnehmen müssen. Das ist unbestreitbar richtig. Der Präsident ist angeschlagen. Ihm stehen persönlich schwere Zeiten bevor. Die Umsetzung seiner Politik ist ungleich schwieriger geworden.

Die zweite Schlussfolgerung des Mèlenchon-Lagers, weil die Mehrheit der Nichtwähler junge Menschen und sozial Schwache und somit tendenziell Wähler der Linken wären, sei die Niederlage des Präsidenten eigentlich noch krachender, ist dagegen mehr als nur zweischneidig. Ja es stimmt, diese Wähler*innen haben offenbar in voller Absicht nicht für Macrons Politik gestimmt. Aber dieser Wähler*innen haben eben auch nicht für das Linksbündnis NUPES votiert. Und warum sollte hinter dieser Entscheidung weniger Absicht liegen?

Schlecht für die EU – gut für Putin

Viele Franzosen halten überdies die Le Pen Partei für satisfaktionsfähig, obwohl die sich bis heute nicht gegen den Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine ausspricht. Eine gewaltige Schlappe nicht allein für Präsident Macron, auch für die Demokratie.

Verlierer ist auch die EU. Der Pro-Europäer Macron ist in seiner Durchsetzungsfähigkeit und Macht beschnitten, dazu eingekreist von dezidierten EU-Gegnern von Rechts- und Linksaußen. NUPES ist nicht in Gänze antieuropäisch – das gilt besonders für die Sozialisten – der Mélenchon-Teil aber ebenso sehr, wie die Rechtsradikalen Le Pens. Die selbstbewussten Auftritte Macrons auf internationalem Parkett werden schwieriger, erst recht die Wucht seines Eintretens für europäische Eigenständigkeit. Freuen dürfte sich darüber nicht zuletzt der Herr im Kreml. Ein schwächeres Europa ist gut für Putin.

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