In Frankreich hat die Ausbreitung des Corona-Virus wieder an Fahrt gewonnen. Die Zahl der Neuansteckungen ist zweitweise auf über 8.000 Fälle angestiegen. Das Tragen von Masken ist seither in vielen Städten auch im Freien verpflichtend. Seit dem 1. September ist auch an Schulen und Arbeitsplätzen das Maskentragen zur Regel geworden – Maßnahmen, die (noch) weitgehend auf Zustimmung stoßen. Als am 29. August in Berlin über 30 000 Menschen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie demonstrierten, waren in Paris lediglich einige Hundert Menschen dem Aufruf der „antimasques“ gefolgt, gegen die Pflicht zum Tragen von Schutzmasken zu protestieren. Nicht unangenehme Auflagen wie die Maskenpflicht sind vorrangiges Thema, sondern die Vermeidung eines erneuten Lockdowns.
Das Ziel: Frankreich gestärkt aus der Krise führen
Die vor der Sommerpause neu ins Amt gekommene Regierung unter Premier Jean Castex musste die Vorstellung ihres 100 Milliarden Euro schweren Recovery-Paketes zurückstellen und den Sicherheitsmaßnahmen wieder Vorrang einräumen. Die französische Regierung will ein erneutes „confinement“, d.h. allgemein geltende Ausgangsbeschränkungen und Produktionseinschränkungen vermeiden. In der Tat wären die wirtschaftlichen und sozialen Kosten eines zweiten Lockdowns für Frankreich fatal; das Konjunkturforschungsinstitut OFCE befürchtet für diesen Fall einen Rückgang des Sozialprodukts gegenüber dem Vorjahr um gut 14 Prozent und für 2021 nur eine bescheidene Erholung um etwas über 5 Prozent. Und auch ohne einen erneuten Lockdown drohen in diesem Jahr ein Wirtschaftseinbruch von 9 Prozent sowie 720.000 zusätzliche Arbeitslose.
So bleibt die Devise für die Regierung klar: den Blick nach vorne richten und das Land darauf einstellen, mit dem Virus zu leben. Nach den Vorstellungen von Präsident Macron soll im Zentrum der Strategie zur Wiederbelebung der Wirtschaft – „France Relance“ getauft – die weitere Transformation des Landes stehen; es gehe nicht allein darum, auf die Auswirkungen der Krise zu reagieren, sondern einen Weg einzuschlagen, das Land gestärkt aus der Krise zu führen.
„Dies ist die Zeit der öffentlichen Ausgaben.“
Der Akzent des nun vorgelegten Aufschwung-Plans soll auf Maßnahmen zur Ankurbelung der Produktion und auf Investitionen gelegt werden. Dafür werden auch bisher gepflegte haushaltspolitische Dogmen aufgegeben. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hat die Devise ausgegeben: „Dies ist die Zeit der öffentlichen Ausgaben“ – und nicht der Haushaltskonsolidierung. Die 100 Milliarden Euro übersteigen das Recovery-Paket nach der Finanzkrise 2008 um das Vierfache und machen etwa ein Drittel des Staatshaushalts aus. Finanziert werden soll das Paket aus Mitteln des EU-Hilfsfonds (40 Milliarden Euro) und mithilfe einer neuen Schuldenaufnahme des Staates.
Angestrebt ist, bis Mitte 2022, dem Ende von Macrons Amtszeit, wieder das Bruttosozialprodukt von 2019 zu erreichen. Mit den erzielten Wachstumseffekten hofft die Regierung dann die zur Finanzierung ihres Relance-Plans notwendige öffentliche Neuverschuldung – das Schuldenniveau wird voraussichtlich auf über 120 Prozent des BIP anwachsen – bis 2025 wieder auszugleichen. Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung des Relance-Paketes werden dagegen kategorisch ausgeschlossen.
Ökologie, Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität
Organisiert ist der als großes Investitionspaket präsentierte Plan um drei zentrale Themen: Ökologie, Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität. Dass das Recovery-Programm nicht einem unhinterfragten Erhalt bestehender Strukturen und Praktiken dienen dürfe, sondern die Chance der Krise zur Weichenstellung in eine nachhaltigere Zukunft nutzen müsse, wurde seit dem Frühjahr wie ein Mantra immer wieder von unterschiedlichsten Seiten betont. Angesichts des Aufstiegs der Grünen bei den Europa- und Kommunalwahlen konnte und wollte die Regierung sich dieser Herausforderung auch nicht entziehen. 30 Milliarden Euro will sie nun in den ökologischen Wandel stecken und dabei einen Schwerpunkt auf die Förderung sauberer Transportmittel und die energietechnische Gebäudesanierung legen.
Bereits vor der Sommerpause hatte die Regierung einen „grünen“ Umbauplan für die Automobilindustrie präsentiert, mit dem sie sich zum Ziel gesetzt hat, Frankreich in Europa zum Vorreiter der Herstellung „sauberer“ Autos zu machen. Dabei setzt die Regierung auf Kaufprämien für den Kauf von Elektro- und Hybridfahrzeugen sowie die Umrüstung von Verbrennungsmotoren. Aber auch Kreditgarantien an Hersteller werden an Auflagen gebunden, wie im Falle von Renault an die Beteiligung am europäischen Projekt zur Batterieherstellung. Gleichwohl erachteten Umweltorganisationen diese „ökologischen Weichenstellungen“ als unzureichend.
Alternativen zum Straßenverkehr und „Relokalisierung“
Im Plan „France Relance“ legt die Regierung den Schwerpunkt nun aber auf die Entwicklung von Alternativen zum Straßenverkehr. Neben Hilfen für die Kommunen zum Ausbau sicherer Fahrradwege gehören dazu mehr Mittel für den Ausbau des Schienennahverkehrs und den Wiederbetrieb stillgelegter oder den Weiterbetrieb von Stilllegung bedrohter Schienenstrecken. Die fehlende bzw. bedrohte Schienenanbindung vieler kleiner Städte war bereits in den Mobilisierungen der „Gelbwesten“ ein wichtiges Thema. War zu Beginn von Macrons Amtszeit noch von der Stilllegung von gut 9 000 km Schienen die Rede, legt die Regierung nun den Hebel komplett um. Neben dem Personenverkehr soll jetzt auch der bislang vernachlässigte Güterschienenverkehr ausgebaut werden.
Einen besonderen Stellenwert im Plan „France Relance“ nimmt die „Relokalisierung“ ein, d.h. die Rückverlagerung von zuvor ausgelagerten Produktionslinien und Forschungskapazitäten nach Frankreich – um die strategische Souveränität Frankreichs und Europas zu stärken. Aus Frankreich wieder eine Industrienation machen, lautet die Vision von Premier Castex. Zum Instrumentenkasten gehören nicht zuletzt signifikante Steuererleichterungen; so soll eine Reduzierung der Produktionssteuer um 20 Milliarden Euro in den beiden kommenden Jahren zu mehr „Waffengleichheit“ gerade im Wettbewerb mit „nahen“ Konkurrenten verhelfen. Als Gegenleistung erwartet die Regierung von den Unternehmen ein starkes Engagement bei der Arbeitsplatzsicherung und -schaffung. Opposition und Gewerkschaften vermissen jedoch, dass die Unternehmenshilfen an klare und verbindliche Auflagen zur Beschäftigungssicherung, beruflichen Fortbildung oder zum ökologischem Engagement gebunden werden.
Sorge vor sozialer Unruhe
Ob der Plan „France Relance“ auch den sozialen Herausforderungen und den Erwartungen der Französ*innen gerecht werden kann, bleibt abzuwarten.Viele Beobachter*innen erwarten, dass sich im Herbst mit einer Zunahme von Firmenpleiten und einer wachsenden Arbeitslosigkeit die „soziale Frage“ wieder in den Vordergrund drängen werde. Bis zum Jahresende erwartet die Banque de France einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf elf Prozent. Selbst wenn die Recovery-Politik eine Wiederbelebung des Arbeitsmarktes erreiche, sehen Experten es als nicht gesichert, dass die neue Nachfrage die Beschäftigten aus Sektoren aufnehmen könne, die sich nicht mehr erholen werden oder – wie etwa die Luftfahrt – im Zuge der Transformationspläne auf ein bescheideneres Niveau zurückgeführt werden sollen. Damit drohe Frankreich ein erhöhtes Niveau struktureller Arbeitslosigkeit.
Die soziale Unruhe, mahnt der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Olivier Faure, sei entsprechend groß. Eine Einschätzung, die durch eine aktuelle Umfrage von Viavoice im Auftrag der Tageszeitung „Libération“ bestätigt wird. Für 48 Prozent der Befragten ist die Beschäftigungsfrage bzw. die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das drängendste Thema und für 46 Prozent der Erhalt und Ausbau des Gesundheitssystems. Den Schutz der Umwelt erachten 40 Prozent noch als wichtigstes Thema, gleichviele wie die Erhaltung der Kaufkraft.
Macron im Umfragetief
Der CFDT-Vorsitzende Lauren Berger sieht in der verbreiteten sozialen Unruhe auch eine Gefahr für die Demokratie. Bleibt es bei der einseitigen Orientierung auf die Angebotsseite, verliert der Plan die aktuellen sozialen Nöte vieler Menschen aus den Augen und riskiert damit – wie es der sozialistische Politiker Stéphane Le Foll formuliert – eine Vertiefung der sozialen Spaltung zwischen denen, die die Zukunft denken, und denen, denen die Gegenwart Angst bereitet. Notwendig sei ein Gleichgewicht zwischen schützenden Maßnahmen und vorausschauendem Handeln. Ansonsten drohe eine Widerbelebung des Klassenkampfes. Die „Gelbwesten“ haben bereits zu neuen Demonstrationen aufgerufen und die Gewerkschaft CGT hat für den 17. September einen „Aktions- und Streiktag“ angekündigt.
Nicht ganz überraschend ist es entsprechend, dass sich angesichts der eher wirtschaftsfreundlichen Ausrichtung des Wiederbelebungs-Plans die Einschätzung verfestigt, dass Präsident Emmanuel Macron politisch rechts verortet ist; 43 Prozent der Befragten einer Ifop-Umfrage von Anfang September sehen ihn im rechten Lager, nur noch 32 Prozent in der politischen Mitte. Nur 22 Prozent wünschen nach den Ergebnissen der Viavoice-Umfrage Macrons Wiederwahl. Von dieser Formschwäche des Präsidenten können seine politischen Herausforderer derzeit aber kaum profitieren. Vielmehr äußert fast die Hälfte der Befragten, dass sie gegenwärtig keinem Politiker und keiner Politikerin zutraue, die Situation Frankreichs zum Besseren zu wenden. In diesem Vertrauensverlust in das politische Personal bei gleichzeitig hoher Erwartungshaltung bzgl. der zu bewältigenden Herausforderungen steckt nach Ansicht vieler Beobachter ein „explosiver Cocktail“ für die französische Demokratie.