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Fokus Ungarn: Freiwillige im Einsatz für die Menschlichkeit

Erst eine umstrittene Plakatkampagne, nun der Bau eines Grenzzauns: Ungarn macht aus seiner Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen keinen Hehl. Doch es geht auch anders. Ehrenamtliche Helfer setzen vor Ort Zeichen der Hilfsbereitschaft und lindern so die Not erschöpfter Migranten.
von Karin Billanitsch · 17. August 2015
Flüchtlinge Ungarn
Flüchtlinge Ungarn

Mehrere Dutzend Menschen scharen sich um das kleine Holzhaus vor dem Bahnhof in Szeged: Wasser in Plastikflaschen, Äpfel und belegte Brötchen werden über den Tresen gereicht. Die Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder, rund 80 Personen, sind aus Bussen gestiegen, die die ungarische Polizei zum Bahnhof geschickt hat. Abgekämpft, erschöpft, manche auch am Ende ihrer Kräfte: so stranden Tag für Tag hunderte Flüchtlinge in der Stadt nahe der ungarisch-serbischen Grenze. Szeged, tief in Ungarns Süden, ist eine Durchgangsstation auf dem Weg in eine bessere Zukunft ohne Angst und Krieg. Voller Hoffnung wollen sie weiter in das Herz der Europäischen Union.

Hunderte Helfer schließen sich in Ungarn zusammen

Die meist jungen Männer und Frauen, die Getränke und Lebensmittel verteilen, tragen Sticker mit der Aufschrift „Volunteers“. Sie haben sich über Facebook und Twitter zur lokalen Initiative „MigSzol“ („Solidarität mit Migranten“) zusammengefunden, mehr als 1500 Menschen sind es mittlerweile. Sie möchten das Leid, das sie täglich vor Augen haben, mildern.  „Wenn du ihnen in die Augen schaust, kannst du nicht anders als helfen“, sagt Éva, die in der Pressestelle der Universität in Szeged arbeitet und an diesem Tag die privaten Spenden im Lager prüft: Zahnpasta und Zahnbürsten, desinfizierende Seife und Kleidung, Wasser und Obstkisten sind hier übereinander gestapelt.

Nóra verbringt in ihre Semesterferien fast jeden Tag hier. „Wir wissen nie vorher, wann eine Gruppe von Flüchtlingen ankommt.“ 200 Menschen lieferte die Polizei kürzlich nachts um eins ab, wenn keine Züge mehr fahren. Die Stadt Szeged – die nicht von der Orbán-Partei FIDESZ regiert wird – hat das Holzhäuschen gestellt, die örtlichen Wasserwerke haben Waschbecken und Wasserhähne unter freiem Himmel installiert. Auch ein paar mobile Toiletten gibt es. Fast zehn Stunden ist Nóra an diesem Tag im Einsatz. Müde? „Das kann ich mir nicht erlauben, wenn so viel zu tun ist.“

Regierung lässt Flüchtlinge im Stich

Manche der Ankömmlinge bleiben nur zwei Stunden, andere einige Tage. Nóra prüft, ob die Papiere, die die Polizei nach der Registrierung verteilt, in Ordnung sind. Nur dann können die Flüchtlinge kostenlos die Züge der Ungarischen Staatsbahn benutzen. Bevor die freiwilligen Helfer die Migranten mit dem Nötigsten versorgt haben, war die Lage am Bahnhof chaotisch. Balász Szalai, einer der Initiatoren von Migszol, schildert die Situation: „Die Behörden geben keinerlei Informationen. Den Flüchtlingen werden Papiere in ungarischer Sprache in die Hand gedrückt.“ Auf sich gestellt, sollen die Menschen in eines der Flüchtlingslager weiter reisen. „Das kann eigentlich gar nicht funktionieren“, sagt Szalai. Er glaubt, dass die Regierung die Situation für ihre Politik nutzen und die fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung schüren will, indem die von der Flucht gezeichneten Flüchtlinge auf der Straße sichtbar werden.

Die FIDESZ-Regierung unter Ministerpräsident Victor Orbán macht Stimmung gegen Flüchtlinge. Auf großformatigen Plakaten stehen Sprüche wie „Wenn Du nach Ungarn kommst, darfst Du Ungarn keinen Arbeitsplatz wegnehmen“ oder „Wenn Du nach Ungarn kommst, musst Du die Gesetze respektieren.“ In ungarischer Sprache, wohlgemerkt. Umgerechnet rund vier Millionen Euro haben die Kampagne und eine Umfrage in der Bevölkerung gekostet, in der viele Fragen Fremdenfeindlichkeit schüren. „Geld ist offensichtlich vorhanden“, kritisiert Márta Pardavi vom Helsinki Committee in Budapest, eine Hilfsorganisation, die Flüchtlingen juristischen Beistand bietet. Bislang habe Ungarn für Flüchtlingsangelegenheiten insgesamt nicht mehr als acht Millionen Euro aufgewendet. Das Land schottet sich mit dem Bau eines vier Meter hohen Grenzzauns zu Serbien ab und hat das Asylrecht verschärft.

Unterstützer organisieren sich selbst

Doch in der Zivilgesellschaft regt sich Widerstand gegen die fremdenfeindliche Kampagne. Immer mehr Menschen versuchen, den Notstand dort zu lindern, wo der ungarische Staat und die Politik sich verweigern. „Wir wollen zeigen, dass Ungarn auch anders sein kann“, sagen zwei Mädchen, Alice und Maria, die sich Migszol angeschlossen haben. Márta Pardavi vom Helsinki Committee lobt die Arbeit der Freiwilligen: „Es ist ein Tropfen im Ozean. Aber die Bewegung ist ermutigend, sie hat viele Unterstützer in der Bevölkerung, wie man auch auf Facebook sieht.“ Eine solche Graswurzelbewegung habe in Ungarn bisher gefehlt, so Pardavi.

Ein Sprecher der Flüchtlingsorganisation UNHCR in Budapest, Bálint Linder, fürchtet, dass die Ansage, dass Ungarn einen Zaun baut, mehr Flüchtlinge veranlasst, noch schneller zu kommen. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte hat mittlerweile einen neuen Höchststand erreicht: Ende vergangener Woche hat die ungarische Polizei laut einer Pressemitteilung innerhalb von 24 Stunden fast 1800 Menschen aufgegriffen. Ende August soll der Grenzzaun fertig sein. Linder weist darauf hin, dass Ungarn die akute Krisensituation nicht allein bewältigen könne. „Der Umgang mit Flüchtlingen ist eine gesamteuropäische Aufgabe. Hat Europa den zweiten Weltkrieg vergessen?“ Auch Márta Pardavi ist überzeugt: „Der Zaun ist keine Lösung.“ Er werde die Flüchtlinge nicht abhalten. Sie werden sich neue Wege suchen, etwa über Kroatien.

Helfer können nicht überall sein

Die Ankömmlinge am Bahnhof in Szeged warten. Eine Familie aus Afghanistan harrt hier schon seit mehr als 30 Stunden aus. Zwei Frauen und zwei Mädchen sitzen im Schatten der Backsteinmauer des Bahnhofs auf dem Boden. Eines der Mädchen hat sich auf der Flucht über die Grenze den Fuß gebrochen. Migszol-Helfer haben sie am Vorabend in die örtliche Klinik gebracht, wo sie medizinisch versorgt wurde. Geschlafen haben sie auf dünnen Planen auf dem Steinboden vor dem Bahnhof. Die Männer der Familie sitzen nicht weit entfernt auf einer der vor der Sonne ungeschützten Bänke auf dem Bahnhofvorplatz. Es herrschen Temperaturen von über 35 Grad im Schatten. Drei Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter spielen mit Stofftieren und pusten Seifenblasen in die Luft. Das kleinste der Kinder der Familie ist noch in den Windeln. Seit drei Monaten seien sie unterwegs, erzählt einer der jüngeren Männer in gebrochenem Englisch.

Jetzt geht es endlich weiter. Ein Bus bringt die Flüchtlinge in das nahe gelegene Dorf Dorozsma, wo der Zug nach Budapest am Gleis steht. Alice und Maria begleiten die Gruppe bis zum Zug. Als er sich – endlich – in Bewegung setzt, gibt Alice per Handy Abfahrtszeit und Zugnummer durch. In Budapest warten schon Freiwillige der dortigen Gruppe „Migration Aid“ um die Menschen in Empfang nehmen. Doch die afghanische Familie wird nicht in Budapest ankommen, wie sich später herausstellt. In Cegléd, rund 80 Kilometer vor Budapest mussten sie aussteigen, wie eine der „Zugbeobachterinnen“ erzählt. Ob sie mit dem Taxi nach Budapest gefahren, in den nächsten Zug nach Debrecen Richtung Flüchtlingslager gestiegen sind oder ihren Weg weiter Richtung Norden gesucht haben: Hier verliert sich ihre Spur.

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Karin Billanitsch

ist Redakteurin beim vorwärts-Verlag und schreibt für die DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik.

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