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Flüchtlingspolitik ist Prüfstein für Europa

Der Druck war immens: Nachdem Mitte April Hunderte Bootsflüchtlinge im Mittelmeer gestorben waren, musste die EU handeln. Nun hat die Kommission ihre „Notfallmaßnahmen“ vorgestellt. Werden sie umgesetzt, wäre das der Beginn einer neuen Flüchtlingspolitik in Europa.
von Peter Riesbeck · 27. Mai 2015
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Am heutigen Mittwoch ist der für Flüchtlingspolitik zuständige EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos wieder am Zug. Er will vorstellen, wie die EU-Kommission sich die Verteilung der Flüchtlinge unter den Mitgliedstaaten konkret vorstellt. Doch der Widerstand ist groß. Das störrische Großbritannien sowie Irland und Dänemark müssen sich aufgrund vertraglicher Sonderrechte (das sogenannte Opt-out) nicht beteiligen. Ungarns Rechtspremier Viktor Orban wünscht grundsätzlich keine Flüchtlinge. Auch andere osteuropäische Staaten wie Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei und Tschechien sehen die Quote skeptisch, die tschechische Regierung verweist auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine.

Auch Frankreich sozialistischer Premierminister Manuel Valls wies Avramopoulos’ Vorschläge von Mitte Mai zurück, ebenso die konservative Regierung in Spanien. Sie wünscht, dass die hohe Arbeitslosigkeit im Land bei der Berechnung der Quote stärker gewichtet wird. Die Quotenregelung steht plötzlich im Rat der Mitgliedstaten ohne Mehrheit da. Ein Blick auf die Pläne der EU-Kommission und die Widerstände dagegen.

Relocation  – Umsiedeln von Flüchtlingen innerhalb der EU

Von einer „echten europäischen Migrationspolitik“ hatte Avramopoulos, einst griechischer Verteidigungsminister, in der Vorwoche gesprochen. Sein Ansatz: Die Flüchtlingspolitik geht alle an, nicht nur die Mittelmeeranrainer wie Italien und Griechenland. Seine Idee: die Quote. Die Asylbewerber sollten unter den Mitgliedstaaten verteilt werden, ausgehend von Wirtschaftsleistung, Einwohnerzahl, Arbeitslosenquote und der Zahl bereits aufgenommener Flüchtlinge – ähnlich wie in der Bundesrepublik.

Avramopoulos’ Problem: Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten mauert. Sie wollen am bisherigen System – im EU-Jargon Dublin-II genannt, festhalten. Demnach muss ein Flüchtling seinen Asylantrag in dem Land stellen, in dem er in die EU einreist. Weil Avramopoulos langwierige Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten fürchtet, greift er zu einem Kniff: Nach Artikel 78,3 des EU-Vertrags kann die EU-Kommission Gesetze für Notsituationen vorschlagen. Die Quote soll also zunächst nur im Sonderfall gelten. Aber sein Trick ist klar: Erstmal am Dublin-Abkommen rütteln und die Quote für Sonderfälle testen, um sie dann dauerhaft einzuführen. Doch fehlt ihm zu seinem Vorhaben die nötige Mehrheit im Kreis der Mitgliedstaaten.

Auch von Flüchtlingsverbänden kommt Kritik: Sie lehnen eine Quote ab, die Flüchtlinge sollten ihr Zielland frei wählen können, so könnten etwa Familien leichter zusammengeführt  und die Integration erleichtert werden. Die deutsche Bundesregierung unterstützt den Plan der Kommission. Von den 626 000 Asylbewerbern in der EU im Vorjahr, hat die Bundesrepublik rund ein Drittel aufgenommen. Der neue Quotenschlüssel der EU-Kommission sieht vor, dass Deutschland künftig 18,4 Prozent der Flüchtlinge aufnimmt.

Resettlement – Aufnahme von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsländern

„Unsere unmittelbare Nachbarschaft steht in Brand“, sagte Dimitris Avrampoulos zuletzt und nannte die Bürgerkriegsländer Syrien und Libyen. Sein Vorschlag: Die EU-Staaten sollen in den kommenden beiden Jahren 20 000 Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern aufnehmen. Auch sie sollen nach einer Quote auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Ein Anfang, aber ein bescheidener. Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks sind allein aus Syrien 3,9 Millionen Menschen geflohen, davon leben derzeit rund 1,7 Millionen in der Türkei und 1,2 Millionen im Libanon. Europas Beitrag fällt also klein aus. Der UN-Sonderberichterstatter für Flüchtlingsrechte, der Kanadier Francois Crépeau, hat erklärt: Allein die reichen Länder wie die EU-Staaten, USA und Kanada müssten bis 2020 eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen.

Search & Rescue – Flüchtlinge suchen und retten

Die EU-Kommission wird die Gelder für die Einsätze „Triton“ (vor der Küste Italiens) und „Poseidon“ (in der griechischen Ägäis) auf neun Millionen Euro monatlich aufstocken, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Das ist ungefähr so viel wie Italiens sozialdemokratische Regierung allein für die Ende vergangenen Jahres ausgelaufene Operation „Mare Nostrum“ ausgegeben hatte. Aber das Land musste den Einsatz auf Druck anderer EU-Staaten abbrechen. Und ein Unterschied bleibt: „Mare Nostrum“ rettete Flüchtlinge auch in libyschen Gewässern, die neue EU-Mission ist beschränkt auf das eigene Hoheitsgebiet – 30 Seemeilen – knapp 50 Kilometer vor der eigenen Küste. Die Retter sind also nur bedingt einsatzbereit.

Disruption – Schleuserrouten unterbrechen

So lautet die neue Sprachregelung der EU-Kommission. „Wir müssen das Geschäft der Schlepper durchbrechen“, so Avramopoulos. Die Außenminister der EU-Staaten haben dazu ein Programm beschlossen. Erst sollen die Routen der Schleuser ausfindig gemacht werden, im Notfall bedeutet „unterbrechen“ auch Schleuserboote mit militärischen Mitteln zu versenken. Die völkerrechtliche Lage ist schwierig. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini bemüht sich derzeit um ein UN-Mandat. Libyen hat aber bereits angekündigt, die EU-Schiffe seien in libyschen Hoheitsgewässern unerwünscht. Die EU beklagt fehlendes Engagement der libyschen Küstenwache. Der Einsatz ist schwierig. Libyens Marine wurde 2011 beim Nato-Einsatz zum Sturz Gaddafis weitgehend ausgeschaltet.

Abschieben von Flüchtlingen

„Wir müssen auch sicherstellen, dass abgelehnte Asylbewerber konsequent abgeschoben werden“, so EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans. Europa macht also ernst. Rechtlich umstritten ist dabei vor allem, ob Flüchtlinge, ohne erkennbaren Asylgrund, direkt  abgeschoben werden können, unmittelbar nachdem sie auf See aufgegriffen worden sind.

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Peter Riesbeck

ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.

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