Flüchtlingskinder gehen in türkische Schulen - ohne die Sprache zu können
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In diesem Schuljahr steht die Istanbuler Grundschullehrerin Elif Ozcan* vor einer Herausforderung, die sie kaum bewältigen kann. In die erste Klasse gehen acht syrische Flüchtlingskinder, Türkisch sprechen sie kaum. „Eigentlich soll ich den Schülern Lesen und Schreiben beibringen. Aber die syrischen Kinder schauen mich nur mit großen Augen an, sie verstehen nichts“, sagt die Lehrerin. „Es ist klar, dass sie zurückbleiben werden.“
Eindringliche Warnung
Die Türkei beherbergt mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge, so viele wie kein anderes Land auf der Welt. Davon sind fast eine Million Kinder im schulpflichtigen Alter. Doch laut UNICEF gehen 390.000 von ihnen nicht zur Schule, viele schon seit Jahren. Die Organisation warnt eindringlich vor einer „verlorenen Generation“.
Um dem entgegenzuwirken, haben syrische Selbsthilfeorganisationen Schulen in der Türkei aufgebaut. Dort werden die Kinder auf Arabisch und nach syrischem Lehrplan unterrichtet. Der Hintergedanke: Nach Ende des Krieges und Rückkehr in die Heimat sollen die Kinder schnell Anschluss finden. Doch damit ist jetzt Schluss. Die türkische Regierung hat beschlossen, die Schulen bis 2019 zu schließen. Die meisten können schon in diesem Schuljahr keinen Unterricht mehr anbieten.
Keine Kontrolle
Der Grund für die Schließung: „Wenn die Flüchtlinge kurz- und mittelfristig nicht in ihre Heimat zurückkehren, bergen die temporären Bildungszentren für die Kinder, aber auch für die soziale und politische Struktur der Türkei große Risiken“, sagt Ercan Demirci vom Bildungsministerium. „Da die Kinder auf Arabisch unterrichtet werden, ist es kaum möglich, damit im türkischen Bildungssystem Fuß zu fassen oder später Berufe zu ergreifen, mit denen sie überleben können.“ Ebenso sei es für die Regierung kaum zu kontrollieren, welche Inhalte an den syrischen Schulen vermittelt werden.
Stattdessen sollen alle syrischen Kinder türkische Schulen besuchen. Doch das Bildungssystem ist schlecht ausgestattet, überfüllte Klassen und zu wenige Lehrer gehören zum Alltag. Nun klagen viele syrische Eltern, weil sie trotz gesetzlichem Anspruch auf einen Schulplatz von vielen Schuldirektoren abgewiesen wurden. Die Begründung: Es gebe keine freien Plätze. Andere berichten, dass ihre Kinder wegen der Sprachbarriere dem Unterricht nicht folgen könnten oder von Mitschülern gemobbt würden.
Fehlende Strategie
Ömer Teke von der Avrasya Stiftung, die sich für die Bildung der Flüchtlingskinder einsetzt, betrachtet den Schritt der Regierung daher skeptisch: „Die Kinder plötzlich auf türkische Schulen zu schicken, ist wie ein Stoß ins kalte Wasser. Die meisten von ihnen sind ohnehin vom Krieg traumatisiert, haben nahe Verwandte verloren, sprechen kaum Türkisch. Die syrischen Schulen können besser auf ihre Bedürfnisse eingehen“, sagt er. Teke setzt sich dafür ein, dass die syrischen Schulen geöffnet bleiben und Vorbereitungsklassen anbieten, mit denen die Kinder dann leichter ins türkische System integriert werden können. Viele der ehemaligen syrischen Schulen richten sich bereits neu aus, bieten Türkisch, Nachhilfe und berufsbildende Kurse an.
Ein weiteres Problem ist die Zukunft der Flüchtlinge in der türkischen Gesellschaft. Zwar akzeptieren die meisten Türken die Syrer im Land, eine Integration sehen viele aber skeptisch. Der Migrationsforscher Murat Erdoğan von der Hacettepe-Universität in Ankara kritisiert deswegen die türkische Regierung. Es fehle eine Strategie. „Jede Institution, jedes Ministerium will etwas für die Flüchtlinge tun. Doch weil der Rahmen einer klaren Strategie fehlt, verlieren wir Geld, Zeit und Generationen. Ankara sollte endlich entscheiden, was wir mit den Syrern tun sollen“, fordert der Migrationsforscher.
Projekt vorgestellt
Hinsichtlich der Flüchtlinge in der Türkei ist auch die EU gefragt. Im Oktober hat das türkische Bildungsministerium zusammen mit EU-Vertretern ein Projekt vorgestellt, mit dem 390.000 syrische Kinder in Türkisch und Arabisch unterrichtet werden sollen sowie verpasste Schulinhalte nachholen können. 5500 Lehrer sollen dafür tätig werden, die EU unterstützt das Projekt finanziell.
Im Rahmen des Flüchtlingsdeals mit der Türkei hat die EU dem Land im November 2,9 Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe zugeteilt, 300 Millionen Euro davon gingen an das Bildungsministerium. Ankara klagt zwar, dass dies nur zehn Prozent der Kosten für Schulen und Klassenräume decke und dass die EU die Zahlungen verzögern würde. Eines ist allerdings sicher: Wer an der Bildung der Flüchtlingskinder spart, setzt die Zukunft einer Generation aufs Spiel.
*Name von der Redaktion geändert
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.