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Flüchtlinge: Die syrische Tragödie

Der Vormarsch des IS hat in Syrien neue Flüchtlingsströme ausgelöst. Inzwischen ist jeder zweite Syrer auf der Flucht. Kein Wunder, dass viele in Schleppern ihre letzte Chance auf Rettung sehen.
von Jörg Armbruster · 26. Mai 2015
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Für den syrischen Machthaber Assad wird es immer enger. Die Terrororganisation, die sich Islamischer Staat (IS) nennt,  hat in den letzten Tagen die bald 2000 Jahre alte  Tempelanlage Palmyra erobert. Damit ist er in der Lage nicht nur ein weiteres Zeugnis abendländisch-orientalischer Identität zerstören. Mindestens genauso wichtig dürften ihm die großen Treibstofflager der syrischen Armee und ergiebigen Gasfelder sein, die er mit der Eroberung dieser Region unter seine Kontrolle gebracht hat. Experten sagen, inzwischen kontrolliere IS die Hälfte Syriens.

Im Norden des Landes sieht es für Assad ebenfalls dramatisch aus. Einer von Saudi Arabien, der Türkei und Katar gesponserten Militärallianz, die gemäßigte Milizen bis hin zu  AlQaida-Extremisten unter einem Oberkommando vereint, der sogenannten Fatah-Armee,  gelang es in den vergangenen Monaten die Nordprovinz Idlib zu erobern, einschließlich der gleichnamigen Provinzhauptstadt. Damit sind die Rebellenmilizen bis dicht an das Siedlungsgebiet der Alawiten im Nordwesten des Landes vorgerückt, der Religionsgemeinschaft also, der auch der Assad-Clan angehört.

Hunderte Leichen in den Straßen

Während bislang in der nun unter Rebellenverwaltung stehenden Provinz Idlib keine Übergriffe gegen Zivilisten gemeldet werden, hat der Vormarsch des IS neue Flüchtlingsströme ausgelöst. Denn die Terroristen sollen allein in den ersten Tagen unmittelbar nach der Eroberung der Ruinenstadt bis zu 400 Regierungssoldaten und Zivilisten umgebracht haben, darunter auch viele Kinder. Hunderte Leichen lägen in den Straßen der Distriktstadt Tadmor, der Nachbarstadt der Tempelanlagen, melden Beobachter. Über 140 000 Menschen lebten bisher in der Stadt. Als aber die schwarz gekleideten Terrorkrieger des IS anrückten, floh wer konnte Hals über Kopf. Denn mit ihrer Schockpolitik lösen die Kopfabschneider des Kalifen Panik und Entsetzen aus. Jeder weiß: Wer sich dem IS nicht bedingungslos unterwirft, wird getötet.

Gelingt ihm die Flucht, dann gehört er zu den 7,6 Millionen Syrern, die als sogenannte Binnenvertriebene im Land umherirren, immer auf der Suche nach Schutz vor dem Krieg, der sie jederzeit wieder einholen kann. Vielleicht sind sie bei Verwandten untergekommen, vielleicht kampieren sie in Zelten irgendwo im Freien, wo sie glauben ein bisschen Sicherheit gefunden zu haben, zumindest auf Zeit. Die meisten dieser Entwurzelten im Land sind für ausländische Hilfsorganisationen kaum erreichbar, schließlich ist Syrien für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen einer der gefährlichsten Orte.

Zu diesen Binnenflüchtlingen gehören auch viele Kinder, die schon seit Ausbruch des Krieges nicht mehr in eine Schule gegangen sind. Ein Viertel aller Schulen soll in Syrien beschädigt oder gar komplett zerstört sein. Es wächst also eine Generation kriegstraumatisierter Analphabeten oder Halbalphabeten in Syrien heran, die die idealen Opfer für die Lockrufe djihadistischer Verführer sind.

Zu wenig Geld für alle Flüchtlinge

Die erschreckende Bilanz nach vier Jahren Krieg: Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht. Denn zu den 7,6 Millionen Binnenflüchtlinge kommen noch einmal rund vier Millionen Syrer, die bislang in die Nachbarstaaten geflohen sind. In die Türkei (1,8 Millionen), nach Jordanien (627 287) oder in den Libanon (1,2 Millionen). In diesem ohnehin schon instabilen Staat ist inzwischen fast jeder vierter Bewohner ein Flüchtling aus Syrien. Die meisten müssen sich als Tagelöhner verdingen, selbst Kinder schuften auf Feldern anstatt in Schulen zu lernen.

Diese Zahlen sagen nicht alles über das syrische Flüchtlingsdrama aus. Es sind nur die offiziellen des UNHCR, des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen. Sie erfassen nur jene Flüchtlinge, die sich haben registrieren lassen. Tatsächlich sind weitaus mehr Menschen aus dem Bürgerkriegsland in die Nachbarstaaten geflohen, haben sich dort aber nicht bei dem Flüchtlingswerk gemeldet.  Die wenigsten haben das Glück, in Flüchtlingslagern des UNHCR oder anderer Hilfsorganisationen unterzukommen, wo sie wenigstens in festen Containern leben können, wo es einigermaßen regelmäßig Strom und Wasser gibt vielleicht sogar eine ärztliche Betreuung. Mehr solcher Einrichtungen zu schaffen, sieht sich das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen nicht in der Lage. Der Grund: gerade mal 20 Prozent der notwendigen Finanzmittel seien tatsächlich gedeckt, klagt UNHCR im Mai.

Die Folge dieses Spendergeizes bekommen die  Flüchtlingsfamilien unmittelbar zu spüren. Statt in Containern organisierter Flüchtlingslager leben sie in Ländern wie dem Libanon oder Jordanien in Kellerverschlägen, in primitiven Behausungen ohne Trinkwasser, ohne Elektrizität, sogar in Ställen zusammen mit Ziegen und Schafen. Oft müssen sie auch noch Miete zahlen für solche  Zumutungen. Kein Wunder also, dass viele von ihnen ihr Heil in Europa suchen und ihr letztes Geld lieber einem Schlepper geben, um ihre letzte Chance zu nutzen.

Autor*in
Jörg Armbruster am Stand des vorwärts-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse.
Jörg Armbruster

war langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten.

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