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Fall Deniz Yücel: Warum die türkische Justiz so langsam arbeitet

Die Türkei hat sich nun offiziell zum Fall Deniz Yücel geäußert – vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Währenddessen rollt eine neue Verhaftungswelle durchs Land. In einzelnen Fällen gibt es aber auch gute Nachrichten.
von Paul Starzmann · 29. November 2017
 #freeDeniz
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Fünf Jahre Untersuchungshaft – so lange darf der Staat laut türkischem Gesetz Verdächtige inhaftieren bis ihnen offiziell der Prozess gemacht werden muss. Das gilt auch für den deutschen Journalisten Deniz Yücel, der seit Februar in der Türkei eingesperrt ist. Dagegen hat er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschwerde eingelegt. Die Haft verstoße gegen seine Grundrechte, so der Vorwurf.

Türkei setzt Urteile aus Straßburg nicht um

Nun liegt dem Gericht eine offizielle Stellungnahme der türkischen Seite zu dem Fall vor: Die türkische Regierung hat wenige Stunden vor Ablauf der Frist am Dienstag ihre Sicht der Dinge schriftlich dargelegt. Das Verfahren vor dem EGMR kann damit fortgesetzt werden. Bald sollen auch Vertreter der Bundesrepublik eine Stellungnahme abgeben, unabhängige Experten von Menschenrechts- und Journalistenverbänden wurden bereits gehört. Mit einer Entscheidung des Straßburger Gerichts ist allerdings frühestens in einigen Monaten zu rechnen. Yücel wird also voraussichtlich noch einige Zeit hinter Gittern verbringen müssen.

Damit bleibt der Fall nach wie vor in der Schwebe, der Prozess zieht sich weiter in die Länge. Sollte der EGMR in einigen Monaten jedoch gegen die türkische Seite urteilen und eine Freilassung Yücels verlangen, müsste die Türkei das Urteil theoretisch verstrecken und Yücel auf freien Fuß setzen. Ob der türkische Staat das tatsächlich tun würde, ist jedoch fraglich. Wie die juristische Fachzeitung „Legal Tribune Online“ schreibt, zählt die Türkei zu denjenigen Staaten, die am häufigsten vom Menschenrechtsgerichtshof verurteilt worden seien – jedoch die Urteile am seltensten umsetzten.

Lahmgelegtes Justizsystem

So hat das Gericht im Jahr 2016 etwa die Diskriminierung der religiösen Minderheiten der Aleviten in der Türkei verurteilt. Alevitische Organisationen hatten in Straßburg geklagt, weil der türkische Staat ihren Gebetshäusern die Gleichstellung mit sunnitischen Moscheen versagt hatte. Türkische Gerichte befanden dies stets unbedenklich. Der EGMR sah das anders, sprach von einer „eklatanten Ungleichgewicht“ zulasten der religiösen Minderheit. Dennoch hat sich an der Stellung der Aleviten im Land auch nach dem EGMR-Urteil nichts geändert.

Das Europäische Menschenrechtsgericht in Straßburg setzt trotzdem weiter auf die türkische Justiz. Jeder aus der Türkei müsse zuerst den Rechtsweg im eigenen Land ausschöpfen, bevor eine Klage in Straßburg zulässig sei, urteilten die Richter Ende 2016. Für die vielen politischen Häftlinge in der Türkei ist das keine gute Nachricht: Das Justizsystem in der Türkei gilt als völlig überlastet, seitdem die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan massenhaft Richter entlässt.

Beobachter erwarten kaum noch faire Prozesse

Der Hintergrund ist eine ausgedehnte „Säuberungswelle“, mit der die Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch von 2015 Regimekritiker in Behörden, Schulen oder Universitäten ruhigzustellen versucht. Seither fehlen nicht nur tausende Lehrer, auch an den Gerichten fehlt Personal – einer der Gründe, warum sich viele Verfahren wie das gegen den Deniz Yücel in die Länge ziehen. Allerdings zweifeln viele auch die Unabhängigkeit der Justiz an, weshalb die meisten Beobachter in der Türkei kaum noch faire Prozesse erwarten.

Auf eine ganze Weile hinter Gittern müssen sich auch die Betroffenen der jüngsten Verhaftungswelle in der Türkei einstellen. Wie verschiedene Medien übereinstimmend berichten, hat die Staatsanwalt in dieser Woche 360 Haftbefehle erlassen. Bei dem Großteil der Beschuldigten soll es sich um Soldaten handeln – ihnen wird, wie so oft, eine Verbindung zum Prediger Fetullah Gülen vorgehalten. Gülen, einst ein enger Vertrauter des heutigen Staatspräsidenten, gilt bei Erdogan und seinen Anhängern als Drahtzieher hinter dem Putschversuch vom Sommer 2015.

Mehr als 100 Jahre Haft für Oppositionspolitiker

Während die Verhaftungswelle durchs Land rollt, gibt es zur gleichen Zeit für einige wenige politische Gefangene in der Türkei auch positive Zeichen. So hat ein Gericht in Istanbul diese Woche den Haftbefehl gegen Suat Çorlu aufgehoben. Çorlu ist der Ehemann der deutschen Journalistin Meşale Tolu, die ebenfalls in der Türkei im Gefängnis sitzt – und bis auf weiteres dort bleiben muss. Auch im Fall des links-liberalen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş wird Bewegung gemeldet. Laut „Cumhurriyet“ ist die Anklage gegen den Politiker der prokurdischen HDP wegen „Anstachelung zum Hass“ aufgehoben worden. Ein kleiner Erfolg für Demirtaş und seine Anwälte. Viel wird er jedoch nicht haben von diesem Freispruch – denn die Regierung wirft ihm auch noch etwas anderes vor: Terrorunterstützung. Dem prominenten Erdoğan-Kritiker drohen mehr als 100 Jahre Haft.

 

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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