International

Europas Fliehkräfte

Juncker-Paket, Griechenland, Großbritannien, TTIP und Dobrindts Probleme mit seiner Maut – der Europäischen Union steht kein einfaches Jahr bevor. Eine Vorausschau
von Peter Riesbeck · 23. Dezember 2014
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Die Nacht sei zum Schlafen da. Das war eine programmatische Aussage des neuen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk vor seinem ersten EU-Gipfel. Und der Mann hielt Wort. Schon nach einem Tag war das vorweihnachtliche Treffen in Brüssel vorzeitig beendet. Tusk setzt auf Effizienz. Auch das Schlussdokument des Gipfels war äußerst knapp gefasst. Drei Seiten zählte die Abschlusserklärung, die sich liest wie eine kleine Aufgabenliste für das kommende Jahr. Ein Blick auf das europäische Semester:


Januar oder das Juncker-Paket:

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker macht auf Tempo. Keine vier Wochen war er im Amt, da legte er ein Investitionsprogramm vor. Kümmerlich ausgestattet mit 21 Milliarden Euro Kernkapital. Aber über private Investoren hofft Juncker 315 Milliarden Euro locker zu machen. Schon am 13. Januar will er nähere Details präsentieren. Es geht auch darum, in welche Projekte das Geld fließen soll. Großbritannien, Ungarn und Polen wollen auch in neue Atommeiler investieren. Österreichs sozialdemokratischer Kanzler Werner Faymann lehnt das ab. Junckers Kompromissformel lautet: Die Gelder sollen in Zukunftsprojekte fließen.

Februar oder mal wieder Griechenland:

Bis Februar läuft die Frist, welche die Euro-Staaten Griechenland eingeräumt hat, um weitere Reformen umzusetzen. Vulgo: das Sparprogramm der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) abzuarbeiten. Der sozialistische Kommissar Pierre Moscovici hat kurz Weihnachten bei einem Besuch in Athen schon eine Belohnung in Aussicht gestellt: Wird das Programm umgesetzt, trete die „Troika in eine neue Phase ein“. Das war mutig. Aber Europa muss Griechenland entgegenkommen. Scheitert die Präsidentschaftswahl in Athen drohen Neuwahlen – und ein Erfolg des Linkspopulisten Alexis Tsipras in Griechenland. Auch in Spanien (Podemos) und Frankreich (Front National) wächst von Links- und Rechtsaußen der Unmut gegen die vom Norden verordnete Sparpolitik. Europa erntet den politischen Fallout der Austerität. Und schürt antieuropäische Fliehkräfte.


März oder wie umgehen mit den Etatsündern:

Bis März hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Frankreich, Italien und Belgien Zeit eingeräumt. Dann müssen sie erklären, wie sie ihre defizitären Staatsetats in Ordnung bringen wollen. Frankreichs sozialistischer Finanzminister Michel Sapin hat im Interview schon mal versprochen, sein Land werde das Defizit „deutlich“ unterschreiten. 2017 – ein Jahr später als erwartet. Italiens Regierungschef Renzi hat die Schuldenkriterien aus dem Maastrichter-Vertrag schon zu Beginn des Jahres 2014 für „überkommen“ erklärt. Im Klartext: Da droht Streit. Auch deshalb ist im März ein Gipfel anberaumt. Die Gefahr weiterer Fliehkräfte ist groß – man will Populisten wie Beppe Grillo (Italien) und Marine Le Pen (Frankreich) nicht weiter befördern.


April oder Lettland lenkt den Blick nach Osten:

Lettland hat im ersten Halbjahr 2015 den rotierenden Ratsvorsitz der EU-Staaten inne. Einer der Schwerpunkte der ehemaligen Sowjetrepublik lautet: östliche Partnerschaft – sprich: Ukraine und Russland. Im März laufen die ersten Sanktionen gegen Russland aus, im Mai lädt Lettland zu einem Gipfel nach Riga. Dazwischen sucht Europa nach einer neuen Strategie. Der Ukraine fehlen – nach vorsichtigen Schätzungen – 15 Milliarden Dollar. Hilfsgelder sollen erst nach Reformen fließen, heißt es diplomatisch. Im Klartext bedeutet das: Der Kampf gegen die Korruption muss entschiedener angegangen werden.  
Nächstes Problem: Russlands Wirtschaft schwächelt bedrohlich – eine Folge des niedrigen Ölpreises, aber auch der europäischen Sanktionen. Europa hält in der Frage der Restriktionen Kurs – sucht aber auch nach neuen Dialogformen. Ein möglicher Weg: Freihandelsgespräche mit der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angestrebten eurasischen Zollunion. Freihandelsgespräche sind zwar langwierig (-> siehe Dezember oder TTIP), aber sie würden der EU und Russland wenigstens ein Gesprächsforum bieten.


Mai oder die Furcht vor dem Brexit:

Am 7. Mai sind Unterhauswahlen in Großbritannien und alle fürchten? Nein, weniger den konservativen Premier David Cameron als vielmehr einen weiteren Dezentristen: den Populisten Nigel Farage und seine britische Unabhängigkeitspartei Ukip. Im Plenum des Europaparlaments ist Farage stets leicht zu finden: ein kleiner Union Jack ziert seinen Platz. Ob die britische Fahne noch weiter im europäischen Kreis weht, ist fraglich. Cameron hat für den Fall eines Wahlerfolgs ein Referendum über den britischen Verbleib in der EU angekündigt. Europa braucht Großbritannien – nicht nur außenpolitisch. Aber die Zahl der Streitpunkte ist groß, wie der heftige Streit um die Personenfreizügigkeit von Arbeitnehmer zeigt. Noch eine Fliehkraft also, die an Europa zerrt. Ein klein wenig Hoffnung schenkt ein Blick nach Schottland: Ein Referendum, aber letztlich der Verbleib in der Union und im Gegenzug weitere Kompetenzen.


Juni oder die liebe Maut:

Sie kommt, die Autobahngebühr für Ausländer, sagt CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt. Sie kommt nicht so, wie Dobrindt sie derzeit plant, sagt EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc. Die Frau aus Slowenien wird leicht unterschätzt. Weil sie erst im September 2014 in die Politik gewechselt ist. Und weil sie mal Schamanen-Kurse besucht hat. Das Lachen ist vielen in der CSU aber längst vergangen. Bulc hat ein Ingenieursdiplom. Und sie war mal jugoslawische Basketball-Nationalspielerin. Solche Leute haben Übersicht. Sie haben Durchhaltevermögen. Und Bulc hat das europäische Recht auf ihrer Seite. Die Maut-Gebühr für Inländer kann nicht mit der deutschen KfZ-Steuer verrechnet werden. Das diskriminiert EU-Ausländer. Das vom Sozialdemokraten Werner Faymann regierte Österreich hat bereits Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angedroht. In Europa gilt für Dobrindts Maut: Vorsicht Gegenverkehr.


Juli oder Junckers LuxLeaks Erblasten:

Im Juli übernimmt Luxemburg für sechs Monate die Ratspräsidentschaft von Lettland. Der Vorsitz wandert in alphabetischer Reihenfolge unter den Mitgliedstaaten. Er kommt aber nicht gänzlich ungelegen: LuxLeaks heißt die Erbschaft aus Junckers Zeit als luxemburgischer Premier, kräftige Steuerabschläge von Konzernen von Amazon über Deutsche Bank und Fiat bis hin zu Walt Disney und Skype. Die EU hat Unterlagen aller EU-Staaten angefordert, selbst Luxemburg hat seinen Widerstand aufgegeben und will seine Daten offenlegen. So hat es Premier Xavier Bettel am Rande des Dezember-Gipfels in Brüssel versprochen. Auch die EU-Kommission hat eine Regelung angekündigt, mögliche Steuerdeals sollen künftig dem Heimatstaat eines Konzerns gemeldet werden. In der Schlusserklärung des Dezember-Gipfels liest sich das leicht sperrig, von internationalen Lösungen im Kreis der G7 und G20 ist die Rede. Im Klartext: Eine endgültige Regelung kann dauern. Aber im Kampf um mehr Steuergerechtigkeit macht sich die EU-langsam auf den Weg.


August oder das romanische Prinzip:

Im August gilt ein ehernes Prinzip, Europa – zumindest der südliche Teil von Frankreich, über Spanien und Portugal bis nach Italien– macht sich auf den Weg an den Strand. Und so herrscht in Brüssel eigentlich Ruhe. Eigentlich. Nur einmal ist das eherne romanische Prinzip der August-Ruhe durchbrochen worden. Im Jahr 2011. Da plapperte der damalige Währungskommissar Oli Rehn so verquer über Griechenland, dass sein Chef José Manuel Barroso den Urlaub abbrechen musste, um die Märkte zu beruhigen. So schlimm wird es nicht wieder kommen. Griechenland bleibt ein Risiko, aber eher politisch, als ökonomisch.


September oder Warten auf den Europäischen Gerichtshof:

Leicht wird das Jahr für die Eurozone ohnehin nicht. Griechenland zerrt an den Nerven (-> siehe Februar) und ein Gespenst geht um in Europa: Die Furcht vor der Deflation. Noch eine Unsicherheit wabert. Europa wartet in diesem Jahr auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Er werde „tun, was immer nötig ist“ hat EZB-Präsident Mario Draghi im Vorjahr erklärt und mit der Ankündigung seines Programms des Ankaufs von Staatsanleihen kriselnder Staaten die turbulenten Märkte beruhigt. Nicht aber das deutsche Bundesverfassungsgericht. Das hat die Frage nach der Rechtmäßigkeit dem EuGH vorgelegt – mit einigen Vorgaben. Bang wartet Europa auf das Urteil. Das zeigt: Der Weg aus der Euro-Krise ist beschwerlich – auch im Jahr 2015.


Oktober oder die Aussicht auf das kommende Jahr:

Im Oktober geht es rund. Zum einen müssen die Euro-Staaten ihre Etats zur Durchsicht an die EU-Kommission. Two Pack und Six Pack heißt das im anglophilen Brüsseler Jargon. Das klingt nicht Fitnessstudio, und in der Tat kann die EU-Kommission gegenüber zu ausgabefreudigen Eurostaaten kräftig die Muskeln spielen lassen. Zuletzt zeigte man sich aber gnädig (-> siehe März). Doch nun müssen die Defizitsünder Italien, Belgien und Frankreich liefern. Noch ein kleines Ritual gibt es im Oktober in Brüssel: Das Herbstgutachten und die ökonomische Vorausschau auf das neue Jahr. An den Wachstums- und Arbeitslosenzahlen wird sich zeigen oder ob Junckers Investitionspaket wirkt – oder doch mit zu wenig Kapital ausgestattet ist.


November oder Europas verspäteter digitaler Aufbruch:

Alle reden davon. Die digitale Wirtschaft soll Europa neue Wachstumsimpulse liefern. Fraglich ist ob, Digital-Kommissar Günther Oettinger den richtigen Kurs verfolgt. Oettinger setzt lieber auf die große Lösung mit großen Konzernen. Das Netz aber funktioniert nicht mit großen Lösungen von oben. Das Netz ist dezentral und kommt von unten. Offen ist, wann Europa das kapiert. Noch ein Ärgernis hat Europa ausgemacht. Die Datenschutzgrundverordnung, welche die bestehende Regelung aus dem Jahr 1995 endlich ans Internetzeitalter anpassen soll. Seit Frühjahr 2014 liegt ein Vorschlag des Europäischen Parlaments vor, aber die EU-Mitgliedstaaten können sich nicht einigen. Ungewohnt heftig polterte Kanzlerin Angela Merkel auf dem Dezember-Gipfel gegen den „individualistischen Ansatz“ der Regelung, der Big Data in Europa verhindere. Darum geht’s doch sollte man meinen. Streit ist also programmiert.


Dezember oder die plötzliche Eile um TTIP:

Bis zum Ende des Jahres 2015 soll das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA unterschriftsreif sein. So formulieren es die Staats- und Regierungschefs auf ihrem letzten Gipfel im Jahr 2014. Das klingt ambitioniert. In der Bevölkerung herrscht Skepsis, vor allem gegenüber Investorschiedsverfahren von Unternehmen und Staaten vor übernationalen Gerichten. Mehr als eine Million Unterschriften gegen das Abkommen sind bei der EU-Kommission eingegangen. Die Behörde setzt auf einen neuen Kommunikationsstil. Und auf mehr Transparenz. So können künftig alle Europaabgeordneten die Verhandlungsdokumente einsehen, bislang war dies nur einen wenigen vorbehalten. Die EU-Kommission setzt aber vor allem auf Wachstum: Rund zwei Millionen Jobs sollen diesseits und jenseits des Atlantiks durch den Abbau von Zollschranken und Handelshemmnissen entstehen. Doch der Zeitplan ist ehrgeizig. Die US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 wirft ihre Schatten voraus. Schon im Herbst 2015 beginnt das Warmlaufen für die Nachfolge von US-Präsident Barack Obama. Und bis die neue Administration im Amt ist, verstreicht weitere Zeit. Prognose: Der Freihandel muss warten. Vor 2018 wird’s wohl nichts mit TTIP.

 

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Peter Riesbeck

ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.

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