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Europaminister Michael Roth: „Die Türkei stellt unsere Vereinbarung auf eine harte Probe“

Europaminister Michael Roth arbeitet mit Hochdruck an einer Lösung für die Flüchtlingssituation an der türkisch-griechischen Grenze. Ein Thema, das auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab Juli beschäftigen könnte.
von Jonas Jordan · 6. März 2020
Michael Roth ist seit Dezember 2013 Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Michael Roth ist seit Dezember 2013 Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt.

In den vergangenen Tagen hat sich die Situation an der griechisch-türkischen Grenze zugespitzt. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die Situation zeigt uns abermals, nationale Alleingänge bringen uns nicht weiter. Wir diskutieren seit Jahren über eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik, die der Humanität verpflichtet ist, für eine faire Verteilung von Geflüchteten eintritt, den Schutz der EU-Außengrenzen verbessern möchte, die Fluchtursachen bekämpfen will und die Lage der Geflüchteten vor Ort zu verbessern trachtet. Aber wir sind immer noch weit entfernt von einer ambitionierten Lösung, die so etwas, was wir derzeit erleben, verhindern kann. Viele in der EU haben sich einfach weggeduckt und gemeint, dass so etwas wie 2015 nicht noch einmal passiert.

Welche Rolle spielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan?

Bei aller berechtigten Kritik an Präsident Erdoğan sollten wir auch würdigen, dass die Türkei über vier Millionen Geflüchtete aufgenommen hat, davon 3,7 Millionen aus Syrien. Es gibt in den Dörfern und Städten in der Türkei inzwischen eine wachsende Ungeduld. Was wir an sozialen Konflikten im Rahmen von Migration in unserem eigenen Land erlebt haben, gibt es auch in der Türkei. Damit will ich nicht rechtfertigen, was die türkische Regierung auf dem Rücken unschuldiger Geflüchteter anrichtet, aber man muss das etwas einordnen. Da fehlt uns manchmal das richtige Maß.

Kann die Türkei noch ein verlässlicher Partner sein?

Die Türkei stellt unsere Vereinbarung auf eine harte Probe. Die Frage ist, ob das, was wir mal verabredet haben, wieder funktionieren kann. Es ist aber nicht alleine das Verschulden der Türkei, dass manches nicht geklappt hat. Beispielsweise ist es bislang kaum gelungen, Geflüchtete aus Griechenland nach abgeschlossenen Asylverfahren wieder zurückzuschicken und dafür in gleicher Zahl Geflüchtete aus der Türkei aufzunehmen. Auch gibt es in der Europäischen Union keine Bereitschaft aller, im Rahmen des Möglichen Geflüchtete aufzunehmen.

„Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Koalition der Solidarität und Humanität in der EU“

Gleichzeitig gibt es gerade in Deutschland viele Bundesländer und Kommunen, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen. Muss man mehr auf das Prinzip der Freiwilligkeit setzen?

Ich habe dafür große Sympathien und freue mich darüber. Es geht momentan nicht mit allen 27 Mitgliedsstaaten. Auch wenn es bitter ist, sich das einzugestehen. Wir haben in Deutschland zwar aufnahmebereite Länder und Kommunen. Gleichzeitig sagt der Bundesinnenminister jedoch, dass wir eine gemeinsame europäische Lösung brauchen. Wenn nicht von allen, dann zumindest von einer signifikanten Anzahl von Staaten. Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Koalition der Solidarität und Humanität in der EU. Denn wir wollen nicht an den anderen vorbei eine einseitige Lösung herbeiführen. Wenn wir jetzt einige unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufnehmen, ist das eine überfällige und von mir unterstützte humanitäre Geste. Damit lösen wir aber nicht das Problem. Das geht nur mit einer verlässlichen Lösung, an der sich möglichst alle Mitgliedsstaaten der EU beteiligen.

In knapp vier Monaten beginnt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Wie könnte Deutschlands Vermittlerrolle in der Flüchtlings- und Migrationspolitik aussehen?

Wenn es um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte geht, dürfen wir nicht schweigen. Da können wir keine politischen Rabatte für irgendjemanden in der EU gewähren. Viele hoffen darauf, dass während der deutschen Ratspräsidentschaft Probleme gelöst werden, die seit Jahren auf dem Tisch liegen. Dazu gehört auch ein Durchbruch bei der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Ich freue mich darüber, dass das Vertrauen in Deutschland nach wie vor so groß ist. Doch wir können Europa nicht in sechs Monaten von Grund auf erneuern.

Welche inhaltlichen Impulse wollen Sie während der Ratspräsidentschaft setzen?

Wir wollen einen Rechtsstaats-Check mit dem etwas sperrigen Namen „Periodic Peer Review“ in der EU einführen. Er soll alle Mitgliedsstaaten umfassen, damit wir endlich zu einem gemeinsamen Verständnis der europäischen Werte kommen. Wir sind eine Wertegemeinschaft und die Unabhängigkeit der Justiz darf von niemanden in Zweifel gezogen werden. Medienvielfalt darf niemals von irgendjemandem angegriffen werden. Da gibt es keine Kompromisse.

Die sozialpolitischen Vorschläge der Kommission tragen eine klare sozialdemokratische Handschrift: eine soziale Grundsicherung überall, armutsfeste Mindestlöhne in allen Mitgliedsstaaten, eine Arbeitslosenrückversicherung. Das waren schon im Europawahlkampf unsere Forderungen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass sie auf die Tagesordnung kommen und in europäische Gesetze gegossen werden.

Außerdem kämpfen wir dafür, dass 25 Prozent der EU-Ausgaben an den Klimaschutz gekoppelt werden. In der Agrarpolitik sollen es sogar 40 Prozent sein. Außenpolitisch geht es darum, dass die EU endlich mit einer Stimme spricht. Gegenüber den USA, Russland, China und anderen globalen Akteuren, die immer öfter unsere Werte nicht teilen.

„Die EU ist nicht einfach nur eine unkontrollierte Geldverteilungsmaschinerie“

Mit welcher Strategie wollen Sie Länder wie Ungarn oder Polen ins Boot holen?

Vor allem müssen wir weiterhin im Gespräch bleiben. Staaten, die die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit brechen, sollen weniger Geld aus Brüssel erhalten. Die EU ist nicht einfach nur eine unkontrollierte Geldverteilungsmaschinerie. Unsere Grundwerte müssen stets eingehalten werden. Wir werden in der EU auch ein Gender-Mainstreaming einführen. Wir wollen alle Ausgaben der EU daraufhin überprüfen, ob Männer und Frauen gleichermaßen davon profitieren. Damit wahren wir das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit.

Wie geht es weiter bezüglich der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien?

Die EU muss hier glaubwürdig bleiben. Die beiden Staaten haben ihre Hausaufgaben erfüllt. Es geht auch erst mal nicht um den Beitritt, sondern um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Stabilität, Frieden und regionale Versöhnung im westlichen Balkan sind für uns von nationalem und europäischem Interesse. Wir haben uns darauf verständigt, den gesamten Erweiterungsprozess zu reformieren. Dazu hat die EU-Kommission jetzt neue Vorschläge gemacht, mit einem noch stärkeren Fokus auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Erfreulicherweise haben die beiden Staaten trotz des Scheiterns im Rat im vergangenen Oktober ihre Reformarbeit konsequent fortgesetzt. Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck, dass wir in unserer Ministerratssitzung im März endlich grünes Licht erteilen können.

Sie haben in den vergangenen Monaten häufig Ihren Wunsch nach den Vereinigten Staaten von Europa geäußert. Bis wann halten Sie die für realistisch?

Das wollen wir doch noch erleben! Und dafür kämpfe ich gemeinsam mit vielen anderen. Die SPD träumt als visionäre Programmpartei schon seit 1925 davon. Die Vereinigten Staaten von Europa sind wichtiger denn je. Wenn Nationalisten und Populisten auf Abschottung, neue Mauern und völkisches Denken setzten, müssen wir dagegenhalten. Das kann nicht nur bürokratisch formuliert sein. Mit einem bundesstaatlichen Konzept für das vereinte Europa kann auch neues Vertrauen wachsen.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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