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Europa und die Türkei: Jetzt sind die Regierungen der EU-Staaten am Zug

In Windeseile entwickelt sich die Türkei zu einer Diktatur. Mit der Forderung, die EU-Beitrittsverhandlungen vorerst auszusetzen, hat das Europaparlament die richtige Antwort gegeben, meint der Abgeordnete Arne Lietz. Nun müssen die EU-Regierungschefs nachziehen.
von Arne Lietz · 6. Dezember 2016
Wie geht es weiter mit dem europäisch-türkischen Verhältnis?
Wie geht es weiter mit dem europäisch-türkischen Verhältnis?

Seit dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli hat sich die Türkei im Zeitraffer in Richtung einer Diktatur entwickelt. Die türkische Regierung geht mit aller Härte gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen vor, den Ankara für den Putschversuch verantwortlich macht. Zeitgleich stellt sie angebliche und tatsächliche Vertreter und Sympathisanten der kurdischen Minderheit unter Generalverdacht. Staatspräsident Erdoğan weitet den Vorwurf Terrorismus zu unterstützen völlig willkürlich auf alle Personen und Institutionen aus, die ihm tatsächlich oder vermeintlich im Weg stehen.

Verhaftungs- und Entlassungswelle der türkischen Regierung

In einer beispiellosen Welle der Repression hat die türkische Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch mehr als 100.000 Staatsbedienstete fristlos entlassen, darunter Angehörige der Sicherheitskräfte, Richter und Staatsanwälte, Lehrer und Erzieher. Mehr als 35.000 Menschen wurden inhaftiert. Die große Mehrheit der Entlassenen und Verhafteten wird beschuldigt, der inzwischen verbotenen Gülen-Bewegung oder der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahezustehen.

Auch Medienschaffende stehen unter massivem Druck vonseiten der Regierung – und das nicht erst seit dem 15. Juli. Mit 139 inhaftierten Journalisten steht die Türkei auf Platz 1 der Negativrangliste in puncto Pressefreiheit in der Welt. Als Reaktion auf die Entwicklung hat das Europäische Parlament bereits am 27. Oktober eine Resolution verabschiedet, in der es die türkische Regierung für ihr Vorgehen gegen unabhängige und kritische Journalisten verurteilt.

Die Situation verschärft sich weiter

Ich war dieses Jahr bereits dreimal in der Türkei, um mir selbst ein Bild von der Lage des Rechtsstaates und der Pressefreiheit zu machen. Mit jedem Besuch habe ich bemerkt, dass sich die Situation für Medienschaffende, Politiker und zivilgesellschaftliche Kräfte im Land merklich verschärft.

Im Oktober habe ich in Diyarbakir Vertreter der kurdischen Minderheit getroffen, nachdem die Regierung kurz zuvor 28 gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im mehrheitlich von Kurden bewohnten südöstlichen Landesteil ihres Mandates enthoben und verhaftet hatte. Bei dieser Gelegenheit begegnete ich Selahattn Demirtaş, einem der beiden Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP-Partei. Nur wenige Tage später wurde er, zusammen mit der Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und zehn weiteren HDP-Abgeordneten verhaftet.

Die EU darf die Vorgänge in der Türkei nicht unbeantwortet lassen

Demirtaş sitzt seit seiner Festnahme im westtürkischen Erdine in Isolationshaft. Jegliche Kontaktaufnahme mit ihm wird von den türkischen Sicherheitskräften unterbunden. Als ich am 21. November in Begleitung von sozialdemokratischen Parlamentariern und Parteifreunden versuchte, ihn im Gefängnis zu besuchen, wurden wir nicht einmal in die Nähe des Gefängnisses gelassen. So wie ihm geht es tausenden Menschen im Land.

Wie drastisch sich die Lage verschlechtert hat, bestätigte die Europäische Kommission kürzlich in ihrem jährlichen Fortschrittsbericht, in dem sie Rückschritte der Türkei im Bereich der Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit feststellte. Die klare Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundwerten kann die EU nicht unbeantwortet lassen, zumal wir mit der Türkei Beitrittsverhandlungen führen.

Eine EU-Mitgliedschaft ist weiter möglich

Auf Betreiben der Fraktion der europäischen Sozialdemokraten und anderer Fraktionen hat das Europaparlament am 24. November mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der es die Europäische Kommission auffordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorübergehend auszusetzen. Zugleich betont das Europaparlament, dass  eine Mitgliedschaft weiterhin möglich ist. Dafür müsste die Türkei auf den Pfad der Pressefreiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte zurückkehren und den Ausnahmezustand beenden.

Gleiches sollte meiner Meinung nach auch für die Frage der Visaliberalisierung gelten: Visaerleichterungen ohne die Änderung der türkischen Antiterrorgesetzgebung und die Rücknahme anti-demokratischer Maßnahmen kann es aus meiner Sicht nicht geben.

Nach dem starken Signal des Europäischen Parlaments sind jetzt die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten am Zug. Sie sollten sich beim Europäischen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in aller Klarheit zur Lage in der Türkei äußern.

Lesen Sie hier den Gastbeitrag des Politikwissenschaftlers Seckin Söylemez, warum ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen falsch ist.

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Arne Lietz

ist SPD-Europaabgeordneter für Sachsen-Anhalt.

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