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EU-Visumsfreiheit könnte türkischen Premier Davutoğlu stürzen

Die EU-Kommission hat die Visumsfreiheit für Türken empfohlen. In der türkischen Bevölkerung kommt das gut an – doch innenpolitisch ist um das Thema ein Machtkampf zwischen Präsident Erdoğan und Premier Davutoğlu entbrannt. Und der könnte den Regierungschef politisch den Kopf kosten.
von Kristina Karasu · 4. Mai 2016
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Eigentlich sollte es das Meisterstück des türkischen Premierministers Ahmet Davutoğlu werden: die Aufhebung der Visumspflicht durch die EU. Doch dieser Erfolg könnte den Premier nun das Amt kosten. Denn Präsident Erdoğan ist der Parteifreund zu mächtig geworden.

Visumsfreiheit: Freude und Skepsis in der Türkei

Einen dicken Ordner voller Dokumente hat die 29-jährige Istanbuler Regieassistentin Özge vorbereitet – Gehalts- und Versicherungsbescheinigungen, Mietvertrag, Passkopien und Fotos. Und das alles nur, um ein Schengen-Visum für einen 5-Tage-Trip nach Berlin zu erhalten. „Es ist jedes Mal ein riesiger Aufwand, ein Visum nach Deutschland zu bekommen, es kostet so viel Geld und Zeit“, klagt sie. Sie ist oft für Filmdrehs in Deutschland, mehrmals besuchte sie die Familie ihrer Freundin dort – doch für jede Reise beginnt der Visums-Marathon aufs Neue. „Die Entscheidung der EU-Kommission über Visumsbefreiungen finde ich großartig, ich freue mich sehr. Doch so richtig glauben kann ich nicht, dass die Befreiung auch wirklich kommen wird.“

So wie Özge zweifeln viele Türken daran, dass die Visumsfreiheit wirklich kommt. Zu oft wurde das Thema in den letzten Jahren von der EU aufgeschoben, zu viele leere Versprechungen über den Beitrittsprozesses ihres Landes hörten sie in der Vergangenheit aus Brüssel. „Warum sollte uns die EU gerade jetzt Visumsfreiheit geben, wo doch so viele Kurden wegen dem Konflikt im Südosten auf der Flucht sind?“ gibt Özge zu bedenken. „Und nicht nur die, auch viele andere Türken würden wohl versuchen, in Europa zu bleiben.“

Gegengeschäft für Merkels Flüchtlingsdeal 

Doch Premier Ahmet Davutoğlu zeigt sich zuversichtlich. Er hatte den Flüchtlingsdeal zusammen mit Angela Merkel federführend ins Leben gerufen. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Türkei alle illegal über das Mittelmeer nach Griechenland eingereisten Migranten wieder zurücknimmt. Im Gegenzug hat die EU seinem Land drei Milliarden Euro zur Versorgung der Flüchtlinge, eine Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses und Visumsfreiheit zugesagt.

Für letzteres hat die EU der Türkei 72 Kriterien auferlegt – von denen Ankara in den letzten Wochen im Rekordtempo die meisten erfüllte. Doch fünf kritische Punkte fehlen noch. Etwa im Bereich der Menschenrechte oder der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung, die nach Ansicht vieler in Brüssel ein Freifahrtschein für die Verfolgung Oppositioneller und die Beschneidung der Meinungsfreiheit ist. Diese Punkte hatten vor allem türkische Oppositionelle angeprangert und gemahnt, dass Europa bei diesen Themen kein Auge zudrücken dürfe. Und so betonte auch EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans heute, dass noch viel Arbeit vor der Türkei liege. Doch wenn die restlichen Punkte noch erfüllt würden, könne Ende Juni die Visumsfreiheit beginnen – vorausgesetzt die EU-Staaten und das EU-Parlament stimmen zu.

Ankara setzte Brüssel erfolgreich unter Druck

Grund für die Entscheidung ist auch der Druck von Premier Davutoğlu. Er hatte wiederholt betont, die Türkei würde sofort die Rücknahme von Flüchtlingen stoppen, wenn die EU ihr Versprechen auf Visumsfreiheit nicht einhalte. Laut Tageszeitung Milliyet „der Trumpf Ankaras in der Visumsfrage.“ Einen Trumpf, den Davutoğlu erfolgreich ausgespielt hat.

Doch seinen heutigen Triumph wird Davutoğlu wohl kaum genießen können – denn innenpolitisch könnte ihn der Deal sein Amt kosten. Wegen Recep Tayyip Erdoğan, Präsident mit eigentlich nur repräsentativen Funktionen - aber in Wirklichkeit der mächtigste Mann im Staat. Er hatte in den letzten Wochen mehrmals seinen Unmut über Davutoğlus Annäherung an die EU kundgetan, und heftig gegen Europa gewettert, wo Davutoğlu auf Verständigung setzte. Ohnehin habe er bereits vor zwei Jahren Visumsbefreiungen ab Oktober 2016 mit der EU vereinbart, ganz ohne Bedingungen, stellte Erdoğan vergangene Woche klar: „Ich verstehe nicht, warum es jetzt als großer Gewinn präsentiert wird, dass die Visumsbefreiung vier Monate vorverlegt wird. Die Präsentation solch kleiner Dinge als große Errungenschaft macht mich traurig.“

Der Präsident attackiert den Premier frontal

Ein kaum verhüllter Affront gegen seinen Premier. Davutoğlu scheint Erdoğan zu mächtig geworden zu sein, erfüllt nicht mehr die ihm zugedachte Rolle als loyaler Bürokrat in Schatten des Präsidenten. Dagegen geht Erdoğan nun mit aller Macht vor. So beschloss der AKP-Parteivorstand vergangene Woche, Davutoğlus Rechte zu beschränken – er kann Provinzgouverneure nun nicht mehr alleine bestimmen. Die Spannungen zwischen Premier und Präsident scheinen so groß, dass Davutoğlu laut heutigen Medienberichten einen Rücktritt erwägt. Heute Abend trifft er sich mit Erdoğan – vermutlich ein entscheidendes Treffen.

Angesichts dieses Machtkampfes verglich Kolumnist Yalçın Doğan heute in der Internetzeitung T24 Davutoğlus Lage mit der seiner Amtskollegin Angela Merkel –der Flüchtlingsdeal würde beide parteiintern in immense Schwierigkeiten bringen.

 

 

 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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