EU und Corona: „Ich hätte mir mehr sichtbare Zeichen der Solidarität gewünscht.“
Thomas Koehler/photothek.de
Im März haben Sie im Interview mit dem „vorwärts“ Ihre inhaltlichen Vorstellungen für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte genannt. Eine europäische Arbeitslosenrückversicherung war dabei und mehr Ausgaben für den Klimaschutz. Was ist nach Corona davon noch übrig?
Die Schwerpunkte der Bundesregierung für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft haben sich trotz Corona nicht grundlegend geändert. Gerade in der Pandemie ist deutlich geworden, wie wichtig sozialer Zusammenhalt, der Umbau unserer Wirtschaft für mehr Klimaschutz, mehr Digitalisierung und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der EU sind. Aber selbstverständlich müssen all diese Themen in einer gesundheitlichen Ausnahmesituation wie wir sie gerade erleben, den Realitäten angepasst werden. Der Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft wird sicher auch daran gemessen werden, ob es uns gelingt, solidarisch aus dieser schweren Krise herauszukommen.
Die Bundesregierung hat Ende April mitgeteilt, dass sie nun den Kampf gegen das Virus und den wirtschaftlichen Wideraufbau in Europa in den Mittelpunkt ihrer Ratspräsidentschaft stellen wird. Was bedeutet das konkret?
Ich hoffe sehr, dass wir in der zweiten Jahreshälfte nicht mehr über weitere Restriktionen werden sprechen müssen, sondern uns eine schrittweise Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in der EU gelingen wird. Wir müssen in der EU zusammenstehen, um wirtschaftlich, vor allem aber sozial, wieder auf die Beine zu kommen. Die Europäische Kommission wird voraussichtlich in dieser Woche einen Vorschlag unterbreiten, wie wir gemeinsam und koordiniert die nächsten Etappen einleiten können. Es wird auch darum gehen, wie wir die Wirtschaft und das Reisen in der Europäischen Union wieder zum Laufen bringen. Dabei helfen uns nationale Alleingänge überhaupt nicht weiter. Ganz entscheidend ist die Frage der Freizügigkeit, die durch die Grenzkontrollen in den vergangenen Wochen drastisch eingeschränkt wurde. Da brauchen wir dringend ein Auslaufen der Kontrollen.
Mit dem Corona-Virus sind auch die Schlagbäume in Europa zurückgekehrt. An der Grenze zwischen dem Saarland und Frankreich wurden Französ*innen als „Sicherheitsrisiko“ bezeichnet. Wie sehr haben die Corona-Umstände die europäische Einigung zurückgeworfen?
Die Bilder der vorübergehend geschlossenen Grenzen zeigen besonders schmerzlich, wie wichtig die Freizügigkeit den Menschen in Europa ist. Der Unmut gerade in den Grenzregionen ist ein klares Zeichen an uns alle, dass Grenzkontrollen eine absolute Ausnahmesituation bleiben müssen. Dabei kam es vereinzelt jedoch auch zu Übergriffen, die durch nichts zu entschuldigen sind. Bei Ausbruch der Pandemie hatte niemand eine Blaupause in der Schublade, wie man sie am besten bekämpfen kann. Auch aufgrund der geringen Kompetenzen der europäischen Institutionen lag die Pandemiebekämpfung in nationaler und regionaler Zuständigkeit. Da sind am Anfang auch Fehler gemacht worden, doch die Länder haben schnell gelernt und auf Solidarität gesetzt: finanziell, aber auch indem wir in Deutschland Patienten aus den am stärksten betroffenen Ländern aufgenommen haben. Solche sichtbaren Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität hätte ich mir mehr gewünscht. Durch zögerliches Handeln ist im Bewusstsein vieler Menschen leider das Gefühl verankert worden, dass die EU im Kampf gegen Corona nicht präsent genug gewesen ist.
Wie lässt sich hier neues Vertrauen schaffen?
Zunächst mal sollten die Mitgliedsstaaten damit aufhören, das alte Spiel zu spielen, nachdem alles Gute aus den jeweiligen Hauptstädten kommt und alles Schlechte aus Brüssel. Wir alle tragen Verantwortung für eine handlungsfähige und solidarischere Europäische Union. Die Verantwortung auch endlich gemeinsam wahrzunehmen, scheint mir durch die Corona-Krise nochmal deutlich wichtiger geworden zu sein. Darüber hinaus müssen wir noch stärker dazu bereit sein, miteinander und voneinander zu lernen. Über diese Tugenden der EU reden wir bisher noch viel zu selten.
Zum 1. Januar soll der Fonds zur wirtschaftlichen Erholung der Europäischen Union nach Corona starten. Reicht der bisher kalkulierte EU-Haushalt dafür aus oder muss nachverhandelt werden?
Der Rettungsschirm, den die Staaten bereits gespannt haben, beruht auf drei Säulen. Neben Mitteln aus dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM gibt es Mittel der Europäischen Investitionsbank für kleinere und mittlere Unternehmen und das Förderprogramm „SURE“ für Kurzarbeiterregelungen in den Mitgliedsstaaten. Gerade letzteres ist ein Meilenstein auf dem Weg hin zu einer Sozialunion. Am Ende kann es aber natürlich nicht nur um Kredite gehen. Der EU-Haushalt, der sogenannte mehrjährige Finanzrahmen, wird so wie er zurzeit verhandelt wird, nicht ausreichen. Die Bundesregierung hat deshalb bereits ihre Bereitschaft erklärt, deutlich mehr Mittel bereitzustellen. Allerdings wollen wir die Vergabe mit den Zielen verknüpfen, die für uns wichtig sind: mehr Klimaschutz und Jobs etwa und natürlich die Einhaltung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Wer systematisch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzt, muss künftig mit der Kürzung von EU-Mitteln zu rechnen haben.
Staaten wie Polen und Ungarn nutzen die Krise, um unter dem Deckmantel des Kampfs gegen das Virus die Demokratie weiter auszuhöhlen. Was wollen Sie dem entgegensetzen?
In einer Reihe von EU-Staaten sind die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zur Eindämmung der Corona-Pandemie in den vergangenen Wochen zum Teil massiv eingeschränkt worden. Das war meist notwendig, darf aber nicht länger als nur irgend nötig andauern. Die Verhältnismäßigkeit und die zeitliche Befristung muss stets gewahrt bleiben. Deshalb bin ich froh, dass die EU-Kommission alle Maßnahmen, die national ergriffen wurden, überprüfen wird. Dann bin ich sehr auf den ersten Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit gespannt, der voraussichtlich im September von der EU-Kommission vorgelegt wird. Für die Zukunft plädieren wir für die Einführung eines Rechtsstaatschecks innerhalb der EU. Es muss uns endlich gelingen, ein gemeinsames Verständnis unserer Grundwerte zu erreichen. Vermeintliche nationale Traditionen und Kulturen dürfen niemals eine Ausrede dafür sein, gemeinsame Werte infrage zu stellen.
In der Corona-Krise ist der Streit über die Vergemeinschaftungen von Staatsschulden – Stichwort Eurobonds – wieder aufgebrochen. Denken Sie, er kann während der deutschen Ratspräsidentschaft beigelegt werden?
Diese Debatte führen wir seit annähernd zehn Jahren. Sie ist zweifellos notwendig. Allerdings haben wir die notwendigen Schritte hin zu einer weiteren Integration leider noch nicht vollzogen. Wir werden das Thema sicher während der deutschen Ratspräsidentschaft wieder aufnehmen, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass wir diesen grundlegenden Konflikt in einem halben Jahr werden beilegen können. Ganz wichtig ist: Jetzt müssen wir schnell, umfassend und unbürokratisch helfen. Solidarische Gemeinschaftsanleihen wären ein weiteres Instrument, werden aber sicher nicht morgen oder übermorgen kommen. Wir müssen die europäische Wirtschafts- und Währungsunion alsbald vollenden, um die viel zu großen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Europäischen Union abmildern zu können. Wir brauchen eben auch eine verbindliche und parlamentarisch kontrollierte Koordination der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik insbesondere in der Eurozone. Unser Ziel müssen gleichwertige Lebensverhältnisse in der gesamten EU sein.
Normalerweise sind Sie und die Mitarbeiter*innen des diplomatischen Dienstes viel unterwegs. Welchen Einfluss haben die Corona-Einschränkungen auf Ihre Arbeit?
Das ist tatsächlich nicht ganz einfach. Zurzeit kommen wir nur noch virtuell zusammen. Das funktioniert im Großen und Ganzen ganz gut, aber in der Europäischen Union sind Begegnung und Austausch da A und O.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.