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EU-Grenze zu Belarus: Warum Europa ohne Asylkonzept erpressbar ist

An der Grenze zu Belarus sammelten sich viele Geflüchtete, Menschen starben. Ein Verstoß gegen internationales Recht, kritisiert die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel scharf. „Man hat Polen machen lassen“, sagt sie zur Situation an der EU-Grenze.
von Benedikt Dittrich · 22. November 2021
Die EU-Außengrenze zu Belarus wird von Polen streng bewacht.
Die EU-Außengrenze zu Belarus wird von Polen streng bewacht.

Frau Sippel, die Situation an der Grenze zu Belarus scheint sich zu entspannen, das Lager wurde offenbar geräumt. Kann Europa wieder zur Tagesordnung übergehen?

Nein, denn für die, die da noch sind, ist die Lage immer noch dramatisch. Die Frage der Rechtsstaatlichkeit ist immer noch dramatisch. Denn dort sind sicherlich noch Menschen, die Anspruch auf Asyl hätten. Wir hören auch von einigen Organisationen auf der belarussischen Seite, dass es Menschen gibt, die versuchen, Asyl zu beantragen. Das wird ihnen aber nicht ermöglicht.

Das heißt: Polen verhält sich rechtswidrig und weder die EU-Kommission noch die anderen Mitgliedsstaaten gehen dagegen vor. Das finde ich ausgesprochen bedenklich.

Wurde Polen mit der Situation alleingelassen oder hat Europa das Verhalten der polnischen Regierung bewusst in Kauf genommen?

Ich glaube, man hat Polen machen lassen, weil sich niemand bewegen wollte was die Aufnahme der Geflüchteten angeht. Umgekehrt ist Polen aber nicht dazu gezwungen, mit der Situation allein umzugehen. Litauen und Lettland haben um Unterstützung gebeten und sie auch bekommen – beispielsweise über die Grenzschutzagentur Frontex. Dort sind auch Organisationen an der Grenze, damit man mitbekommt, was dort passiert und unterstützen kann. Polen hätte diese Unterstützung auch erhalten können.

Gab es an der polnischen EU-Außengrenze aus ihrer Sicht Verstöße gegen internationales Recht?

Ich glaube schon, dass gegen internationales Recht verstoßen wurde mit Blick auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Auch gegen europäisches Recht. Jeder, der einen Antrag auf Asyl stellen will, muss dazu die Möglichkeit haben. Genau das wurde nicht ermöglicht. Selbst wenn man vermutet, dass diese Menschen kein Recht auf Asyl hatten: Vermuten reicht nicht, die Anträge hätten angenommen werden müssen. Mindestens hätte man humanitäre Hilfe zulassen müssen. Es gibt schon bestätigte Berichte, dass mindestens zehn Menschen gestorben sind. Womöglich gibt es noch mehr Tote.

Menschen die an den europäischen Grenzen ausharren – Solche Bilder kenne wir auch aus 2015 und 2020. Werden sich solche Situationen also immer wieder wiederholen?

Das Problem wird sich sicherlich nicht von allein lösen. Der Vergleich mit 2015 ist allerdings schlecht: Damals kamen ganz viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Europa. Darauf waren die europäischen Staaten nicht vorbereitet, deswegen sind damals diese Bilder entstanden.

2020 allerdings wurde eine solche Situation von der türkischen Regierung erzeugt. Dass Machthaber aber überhaupt den Eindruck haben, sie könnten Druck ausüben, indem sie Menschen an die Grenze bringen, liegt daran, dass wir kein Konzept für die Aufnahme von Flüchtlingen haben.

Polen hätte vorschlagen können, gemeinsam den Druck auf Belarus zu erhöhen, gleichzeitig aber den Zugang zu Asylverfahren ermöglichen und die Aufnahme von Flüchtlingen zu organisieren. Wir könnten von uns aus Flüchtlinge aus überfüllten Lagern aufnehmen, mit internationalen Organisationen den Schutzbedarf vor Ort prüfen.

Solange wir das nicht tun, kann es immer wieder passieren, dass Machthaber wie Erdogan oder Lukaschenko die Situation für sich nutzen. Egal, ob sie damit von innenpolitischen Problemen ablenken wollen, Druck auf uns erhöhen oder die EU schlecht dastehen lassen wollen.

Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss sich fragen lassen, ob unsere europäische Art zu Leben darin besteht, Menschen an der Grenze stehen zu lassen.

Bei der Suche nach einer europäischen Lösung kommt die EU aber seit Jahren nicht weiter. Hat sich daran jetzt etwas geändert, vielleicht bei Ihnen im Europaparlament?

Wir können natürlich auf Rat und Kommission einwirken und wir haben erst kürzlich ein neues Mandat für die EU-Asylagentur verabschiedet. Das war möglich, weil die Mitgliedstaaten endlich einen Mehrheitsbeschluss erwirkt haben, statt wie sonst üblich auf Einstimmigkeit zu bestehen. Einstimmigkeit ist in Migrationsfragen nicht vorgeschrieben, weswegen die Mitgliedstaaten hier immer Mehrheitsbeschlüsse anstreben sollten. Gegen diejenigen, die sich nicht an geltendes Recht halten, muss die Kommission Vertragsverletzungsverfahren einleiten.  

Es gibt inzwischen auch mehrere Kolleginnen und Kollegen, die über eine Vereinbarung mit einzelnen Mitgliedsstaaten nachdenken, wenn wir keine Lösung mit allen 27 Mitgliedsstaaten hinbekommen. Das ist jetzt nur ein fiktives Beispiel: Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland könnten sich entschließen, Flüchtlinge aufzunehmen und untereinander zu verteilen. Diese Staaten könnten dann auch mehr Geld aus dem EU-Haushalt für die Bewältigung dieser Aufgabe erhalten, während andere Staaten weniger bekommen – das wäre ein Weg, mit gutem Beispiel voranzugehen. Mittelfristig holt man so hoffentlich alle anderen Staaten an Bord.

Dafür brauchen wir natürlich auch eine Mehrheit, aber wir stehen eben nicht nur in der Corona-Politik vor der Herausforderung, dass wir in der Politik klare Beschlüsse fassen und uns klar positionieren sollten.

Birgit Sippel ist Mitglied des Europaparlaments und innen- und migrationspolitische Sprecherin der Sozialdemokrat*innen.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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