EU-Flüchtlingspolitik: Ein Beschluss und viele Verlierer
Von einer „blutigen Debatte“ sprach ein hoher Diplomat eines osteuropäischen Landes am Mittwoch. „Heute ist der gesunde Menschenverstand verlorengegangen“, hatte sich schon zuvor Tschechiens Innenminister Milan Chovanec empört. Es herrscht Aufregung in Brüssel am Mittwoch. Am Abend kommen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten zu einer informellen Runde zusammen, einziges Thema: die Flüchtlingspolitik. Aber es geht auch um Verletzungen. Eine „emotionale Debatte“ erwarten EU-Diplomaten. Denn tags zuvor hatten die EU-Innenminister über die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen auf die EU-Staaten abgestimmt. Per Mehrheitsbeschluss und nicht wie sonst in wichtigen Fragen üblich einstimmig. Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien stimmten gegen den Plan. Durch Europa geht ein tiefer Riss. Ein Blick auf Beschlüsse und Befindlichkeiten.
EU-Flüchtlingspolitik: Feste Quote lässt auf sich warten
Beschluss: 120.000 Flüchtlinge, die in Griechenland und Italien gestrandet sind, sollen auf die beteiligten EU-Staaten verteilt werden. Davon entfallen 31.000 auf Deutschland. Nicht per fixer Quote, sondern per freiwilliger Selbstverpflichtung. Das klingt zunächst einmal gut, hat aber auch Folgen: Denn der Beschluss hat viele Verlierer. Da ist zunächst Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, er hatte sich für eine festen Verteilerschlüssel eingesetzt. Der aber wurde gekippt. Die Quote ist tot. Auch eine Niederlage für Juncker. Vor allem aber für die Flüchtlingspolitik. Eine feste Quote lässt auf sich warten. Die EU ist weiter auf die Angebote der Staaten angewiesen. Wie, das läuft lässt sich an einem ersten Testlauf erkennen. In der Vorwoche hatten die EU-Staaten die Verteilung von 40.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland vereinbart. Bislang erklärten sich die Mitgliedsländer aber nur bereit, 32.000 Menschen aufzunehmen. Fazit: Die europäische Solidarität kennt Grenzen.
Abweichler: Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei haben es nun schriftlich. Sie stehen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik abseits. Schon drohte Tschechien das Thema am Mittwochabend im Kreis der Staats- und Regierungschefs zu verhandeln. Laut EU-Recht müssen sie den Beschluss dennoch umsetzen – sonst droht wie üblich ein Vertragsverletzungsverfahren. Schon am Mittwoch leitete die EU-Kommission 14 weitere Strafverfahren in der Asylpolitik ein, zusätzlich zu den 35 Ermittlungen gegen nachlässige Mitgliedstaaten, die schon laufen. Fazit: Die EU setzt in der Flüchtlingspolitik auf Zwang, aber Solidarität lässt sich nicht erzwingen.
Es gibt mit Polen noch Mutige in Europa
Spaltung: Durch ein Europa verläuft plötzlich ein neuer Graben, nicht mehr Nord gegen Süd wie in der Eurokrise, sondern West gegen Ost. Mutig war allein Polens Regierungschefin Ewa Kopacz, sie steht daheim mitten im Wahlkampf und muss sich von der rechten Kaczynski-Partei heftige Vorwürfe in der Asylpolitik anhören. Dennoch sagte Kopacz zu, dass Polen 4.900 Flüchtlinge aufnimmt. Fazit: Es gibt also noch Mutige in Europa. Dennoch hat der Beschluss auch außenpolitische Konsequenzen: Polen bildet mit den Abweichlern Ungarn, Tschechien und Slowakei die sogenannte Visegrad-Gruppe, ein osteuropäischer Interessenverbund in der EU. Auch Visegrad scheint gesprengt. Zum Nachteil auch der deutschen Außenpolitik, wichtige Fragen – etwa die Sanktionspolitik gegen Russland in der Ukraine-Krise – konnten so über Polen in den osteuropäischen Resonanzraum eingespeist werden. Es drohen Verletzungen.
Umsetzung: Der Beschluss gilt, aber die 120.000 Flüchtlinge sollen im Zeitraum von zwei Jahren verteilt werden. Ein langer Zeitraum, wenn man bedenkt, dass allein in München an einem Septemberwochenende fast 40.000 Flüchtlinge kamen. Fazit: Der Beschluss ist ein Signal, aber noch die Lösung der dringlichen Fragen in der EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik.
Angespannte Atmosphäre vor EU-Gipfel
Gipfel: Am Mittwochabend kommen in gespannter Atmosphäre die Staats- und Regierungschefs zusammen. Es ist die zweite Krisenrunde zur Flüchtlingspolitik. Die erste tagte im April nach einem verheerenden Flüchtlingsunglück im Mittelmeer. Die zweite Runde kommt nun zusammen, nach einem langen unerquicklichen Sommer. Ein Sommer, in dem Ungarn sich zu Serbien mit einem Zaun abriegelte. Ein Sommer, an dem Europa die Flüchtlinge auf Abwege über Kroatien und Slowenien schickte. Ein Sommer, in dem Europa zur Flüchtlingspolitik weitgehend schwieg. Kein gutes Zeichen für Europa. Der Gipfel am Abend lenkt den Blick weitgehend nach außen: Zum einen auf die Türkei. Es geht um die syrischen Flüchtlinge im Land und die offene Grenze der Türkei zu Griechenland. Nach langem Zögern entdeckt die EU die Türkei als Partner
Der Blick nach außen richtet sich aber auch auf Syrien und mögliche Friedensoptionen für den Bürgerkrieg im Land. Die EU-Staaten Frankreich und Großbritannien arbeiten an Lufteinsätzen, die Frage wie umgehen mit Syriens Machthaber Baschar al-Assad ist aber offen, ebenso wie die Kooperation mit Russland, das seine Truppenpräsenz in Syrien verstärkt. Die syrische Lösung wird noch lange dauern: Diese Krise ist gekommen, um lange zu bleiben.
ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.