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EU-Asylpolitik: Experten fordern Reisefreiheit für Flüchtlinge

Die EU setzt in der Flüchtlingsfrage auf Abschottung. Dabei hätten Länder wie Deutschland die Zuwanderung dringend nötig. Bevor die EU-Asylpolitik endgültig scheitert, fordern Wissenschaftler einen „Neustart für Europa“.
von Paul Starzmann · 25. April 2017
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Die Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik hätte schärfer nicht sein können: „Viele Flüchtlingslager sind Konzentrationslager – wegen der Menge an Menschen darin“, sagte Papst Franziskus am Samstag über die Situation Geflüchteter in Griechenland. In der Tat sind viele Aufnahmelager an den Rändern Europas heillos überfüllt. Tausende Menschen leben hinter Stacheldraht, oft unter unwürdigen Bedingungen. Ihre Situation zeigt: Die EU-Flüchtlingspolitik ist so gut wie gescheitert.

EU-Flüchtlingspolitik: „unüberbrückbare Differenzen“

Diesen Befund teilt auch der „Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration“, der am Dienstag sein Jahresgutachten in Berlin vorstellte. Für den Vorsitzenden des Rats, den Wirtschaftswissenschaftler Thomas Bauer, stehen die EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage vor „nahezu unüberbrückbaren Differenzen“. Bei den Regierungen gebe es „eine mangelnde Kooperationsbereitschaft“, kritisierte die Politologin Petra Bendel. Weil sich Europa nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könne, habe die europäische Union die Flüchtlingspolitik kurzerhand „nach außen verlagert“ – durch militärische Präsenz im Mittelmeer oder Abkommen mit sogenannten Transitstaaten. Das Ziel: die Migration noch vor den Toren Europas zu stoppen.

Nebenbei beteuern viele Politiker, die Fluchtursachen bekämpfen zu wollen – etwa durch ein Aufstocken der Entwicklungshilfe. Der Soziologe Christian Joppke sieht darin jedoch nur ein „gut gemeintes rhetorisches Programm, das auf wackeligen Füßen steht“. Ein Problem ist außerdem die politische Polarisierung in Europa: EU-Gegner wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seien bisher „tonangebend“ gewesen in der Flüchtlingsfrage, kritisierte Joppke. Der Sachverständigenrat sieht die Lösung dagegen in einer „Europäisierung der Asylpolitik“. Die zentrale Forderung: ein „Neustart für Europa“.

Sachverständigenrat: Keine Angst vor Flüchtlingen

Die Lösung der Flüchtlingsfrage müsse in Brüssel gefunden werden, sind sich die Sachverständigen sicher. „Die Alternative wäre, die Asyl- und Flüchtlingspolitik bei den Mitgliedsstaaten zu lassen“, sagte Bauer. „Das kann nicht die Lösung sein.“ Die Aufnahme und Integration der Geflüchteten sei möglich. Er erinnerte daran, dass Deutschland bereits „mehrfach Zuwanderungswellen ähnlichen Ausmaßes“ wie im Sommer 2015 gemeistert habe. So habe die Bundesrepublik nach der Wende nicht nur die DDR-Bürger integriert, sondern auch Spätaussiedler aus den ehemaligen Sowjetstaaten und Asylbewerber vom Balkan aufgenommen. Ungefähr dieselbe Menge an Zuwanderern wie im Sommer 2015 brauche es, um die Bevölkerung und die Zahl der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik konstant zu halten. Zwar werde der Zuzug von Flüchtlingen „das Problem des Fachkräftemangels nicht lösen“, sagte Bauer. Zugleich müsse aber niemand einen „nennenswerten Lohndruck“ oder die „Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte“ befürchten.

Bauer will die Flüchtlingszuwanderung „als Chance nutzen“. Dafür müsse aber Solidarität unter den EU-Staaten gelten, fordert der Sachverständigenrat. Die Staaten an den EU-Außengrenzen dürften in der Asylpolitik nicht alleine gelassen werden. Zur Zeit gebe es „praktisch keine Mechanismen, um die Lasten der Zuwanderung von Flüchtlingen zu verteilen“, heißt es in dem Bericht. Um daran etwas zu ändern, wollen die Experten die Reisefreiheit für Geflüchtete erhöhen. Das Ziel: anerkannte Flüchtlinge sollen innerhalb der EU so reisen dürfen wie Bürger mit EU-Pass. „Damit könnten die Flüchtlinge selbst durch Weiterwanderung die Staaten an den Außengrenzen entlasten“.

Anerkannte Flüchtlinge als Steuerzahler

Nach der Idee des Sachverständigenrates würde es „zu einer neuen Form der Arbeitsteilung in Europa kommen“, sagte Bauer. Die Durchführung der Asylverfahren würde weiterhin bei den Staaten an den Außengrenzen liegen. Die Länder in Nord- und Westeuropa würden im Gegenzug ihre Arbeitsmärkte schrittweise für anerkannte Flüchtlinge öffnen und so ihren Beitrag zur Integration leisten. Dadurch wären nicht nur Griechenland und Italien entlastet, auch Deutschland, Frankreich oder Schweden könnten finanziell profitieren: „Wenn Flüchtlinge mittelfristig zu Steuerzahlern werden, dann zahlt sich das aus“, sagte Bauer. „Dann haben alle etwas davon.“

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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