Ermordung von George Floyd: „Wir sind noch mittendrin in der Debatte.“
imago images/ZUMA Wire
Vor einem Jahr wurde der Afro-Amerikaner George Floyd in Minneapolis von einem weißen Polizisten ermordet. Wie erinnern die USA an den Jahrestag?
In den Medien spielt das Thema natürlich eine große Rolle, wenn auch nicht unbedingt auf den Titelseiten. Es gibt viele Interviews mit Aktivisten zur Frage, wo sie die USA ein Jahr nach dem Mord sehen. Beim Blick auf die Politik ist sicher das Treffen von Joe Biden mit den Angehörigen von George Floyd im Weißen Haus das wichtigste Ereignis. Das ist aber eher ein informelles Gespräch ohne politisches Programm drum herum. In Minneapolis wird es sicher auch Demonstrationen geben. Für Washington, DC ist da aber nichts geplant, soweit ich weiß.
Der Polizeibeamte Derek Chauvin ist bereits vor einigen Wochen für schuldig befunden worden. Das Strafmaß soll im Juni bekannt gegeben werden. Was sind da die Erwartungen?
Das ist schwer vorherzusagen. Ein sehr wichtiges Zeichen war zunächst, dass der Polizist verurteilt wurde. Das ist ja in vielen ähnlichen Fällen zuvor nicht so gewesen, was unter anderem mit der qualifizierten Immunität von Strafverfolgungsbeamten zusammenhängt. Momentan strengt Derek Chauvin ein neues Verfahren an, aber ich gehe davon aus, dass die Verurteilung rechtskräftig bleibt. Für die Hinterbliebenen und die Aktivisten war das Urteil ein sehr wichtiges Signal. Die Anklage hat versucht, das Strafmaß möglichst hoch anzusetzen. Die Anklage hat bei der Tat „besondere Grausamkeit“ unterstellt. Insofern denke ich, dass es ein recht hohes Strafmaß geben wird.
Lässt sich bereits sagen, wie sehr die Ermordung George Floyds und die Verurteilung des Mörders die USA verändern werden?
Endgültig wird man das erst in einigen Jahren sagen können, wenn überhaupt. Klar ist aber, dass es nach der Tat eine breite gesellschaftliche Debatte gab, die bis heute anhält. Dabei geht es um Fragen was Kinder eigentlich über die Zeit der Sklaverei in der Schule lernen. Es gibt lokale Initiativen, die sich für Wiedergutmachungszahlungen stark machen. Es haben lokale Polizeireformen stattgefunden. Auch im Senat gibt es den ernsthaften Versuch einer bundesweiten Polizeireform. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass viele der massiven Wirtschaftshilfen der Biden-Regierung gerade den unteren Einkommensgruppen zugutekommen. Biden weiß, wie politisch polarisierend direkte Hilfen für Teile der US-Bevölkerung wären, insofern ist die Hilfe eine indirekte, die aber gerade afro-amerikanischen Familien zugute kommt. Das hat zwar keinen direkten Zusammenhang mit George Floyd, aber eine Verbindung zur Bekämpfung der strukturellen Ursachen wird schon deutlich.
Gibt es auch Widerstand gegen diese Veränderungen?
Oh ja! Kommentatoren nennen das „white backlash“. In einzelnen Bundesstaaten gibt es massive Entwicklungen, das Wahlrecht einzuschränken oder die Versammlungsfreiheit zu beschneiden. Beides zielt in den allermeisten Fällen vor allem auf die schwarzen Bevölkerungsgruppen bzw. die Black-Lives-Matter-Protestbewegung. Hinzu kommt zum Teil massiver Widerstand der Republikaner gegen einen aufgeklärten Geschichtsunterricht. Und natürlich war die Polizeigewalt mit dem Fall George Floyd nicht beendet. Stattdessen gibt es fast täglich Fälle von Polizeigewalt, die natürlich nicht die mediale Aufmerksamkeit bekommen wie George Floyd vor einem Jahr. Wir sind noch mittendrin in der Debatte, etwa über die Frage, ob Gelder, mit denen die Polizei weiter aufrüstet, nicht besser investiert wären in Prävention und soziale Maßnahmen.
Joe Biden hat den Kampf gegen den Rassismus zu einem der Schwerpunkte seiner Präsidentschaft erklärt. Was bedeutet das für konkrete Vorhaben?
Das bekannteste Vorhaben des Präsidenten ist sicher seine Initiative für ein bundesweites Polizeigesetz, mit dem etwa eine Einschränkung der qualifizierten Immunität oder das Verbot des Würgegriffs erreicht werden soll. Biden hat sehr dafür geworben, dass das nach George Floyd benannte Gesetz zum Jahrestag seiner Ermordung in Kraft tritt. Das haben die Republikaner im Senat zwar bisher verzögert, aber es gibt einen ernsthaften Versuch einer Einigung. Der wichtigere Hebel ist aber sicher, strukturelle Probleme in der Sozialpolitik anzugehen und so bestimmten Entwicklungen etwa beim Wohnen, in der Bildung oder der Gesundheit entgegenzuwirken. Auch bei der Berufung seines Kabinetts die Diversität der amerikanischen Gesellschaft abzubilden, war aus meiner Sicht ein wichtiges Zeichen gegen den gesellschaftlichen Rassismus. Wer schnelle, umfassende Veränderungen erwartet hat, der verkennt die Größe der Herausforderung. Politische Reformen in den USA sind außerdem nie ein linearer Prozess, sondern immer von konkreten Ereignissen geprägt. Langfristige Kämpfe und kurze Aktivitätsschübe nach einer Krise – so laufen Reformen in den USA normalerweise ab. Zudem lässt sich Rassismus nicht gesetzlich verbieten. Dafür braucht es Austausch und – ganz wichtig – die Bildung sowie ehrliche Debatten um das Erbe der Sklaverei.
Gehen die Proteste auf der Straße, die sich im vergangenen Jahr rund um den Globus ausgebreitet haben, eigentlich weiter?
Im vergangenen Sommer gab es landesweit etwa 7500 Demonstrationen. Die Proteste sind inzwischen weniger geworden, flammen aber bei jedem neuen Fall, der öffentlich wird, wieder auf. Ein einzelnes Ereignis könnte also schnell zu einer neuen Protestwelle führen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.