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Erdogans AKP verliert Regierungsmehrheit

Bei den türkischen Parlamentswahlen am Sonntag hat die Regierungspartei AKP zwar erneut gewonnen, aber ihre Regierungsmehrheit verloren. Die kurdennahe HDP gilt als größter Gewinner. Regierungsgegner feiern die Wahl als einen Sieg der türkischen Demokratie. Doch die Koalitionsbildung wird schwierig.
von Kristina Karasu · 8. Juni 2015
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Als der türkische Premier Ahmet Davuoğlu am Sonntagabend in Ankara vor seine jubelnde Anhänger tritt, spricht er von einem großen Sieg. Doch in den Augen seiner Parteikollegen hinter ihm auf dem Balkon ist etwas anderes zu lesen: große Enttäuschung. Zwar hat die AKP erneut eine Wahl gewonnen, doch massiv an Stimmen verloren: sie erreichte 40,7 Prozent, bei den Wahlen 2011 waren es noch 49,8 Prozent. Zum ersten Mal seit 13 Jahren kann sie nicht mehr alleine regieren, sondern ist auf eine Koalition angewiesen. Mit diesem Ergebnis wird Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seine Träume von einem Präsidialsystem mit ihm an der Spitze kaum verwirklichen können. Zwar genießt die AKP in einem Teil der Bevölkerung noch große Unterstützung, ihre Reformen, wirtschaftlichen Erfolge und effektiver Regierungsstil sind nicht vergessen – doch einen autoritären Ein-Mann-Staat wollen die meisten Türken nicht. So erklärten türkische Kommentatoren Erdoğan zum wahren Verlierer der Wahl.

Kurdennahe HDP ist der Wahlgewinner

Viele Türken nehmen im übel, dass er sich offen in den Wahlkampf einmischte – obwohl er als eigentlich neutrales Staatsoberhaupt damit gegen die Verfassung verstieß. Inakzeptabel finden sie, wie er seine Gegner als Staatsfeinde beschimpft – vorige Woche etwa nannte er kritische Medien, die armenische Lobby und Homosexuelle allesamt Volksverhetzer, verbündet mit der kurdennahen Demokratischen Partei der Völker, HDP. Seine verbalen Attacken nutzen nichts – die HDP ist der größte Gewinner der Wahl. Mit 13 Prozent hat sie klar die 10-Prozent-Hürde genommen – und zieht damit das erste Mal ins Parlament ein. Damit verhinderte sie, dass die AKP allein an der Macht bleibt. Ihre Wahlkampfstrategie ist aufgegangen – sie präsentierte sich nicht als Kurdenpartei, sondern als linke Alternative für die ganze Türkei, die Erdoğan stoppen will. Das brachte ihnen viele Stimmen von Protestwählern ein, Kurden wie Nicht-Kurden. Dementsprechend verkündete der HDP-Führer Selahattin Demirtaş am Sonntagabend sichtlich berührt, dass die Debatte um ein Präsidialsystem in der Türkei nun ein Ende habe.

Blutiger Wahlkampf

Für diesen Triumph zahlte sie allerdings einen hohen Preis: am Freitag explodierten bei einer Wahlkampfveranstaltung der HDP in Diyarbakır mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern zwei Bomben. Vier Menschen starben, 200 wurden verletzt. Im gesamten Wahlkampf wurde die HDP laut der Menschenrechtsorganisation IHD Ziel von knapp 160 Angriffen. Doch letztlich brachte das der HDP nur noch mehr ZulaufIm kurdisch geprägten Osten des Landes verlor die AKP erdrutschartig Stimmen an die HDP – in der Kurdenhochburg Diyarbakır etwa erlebte sie einen Einbruch von über 50 Prozent. Viele Kurden nehmen Erdoğan übel, dass er kürzlich verkündete, es gäbe keine Kurdenproblem. Zwar hatte Erdoğan vor zwei Jahren den Friedensprozess mit der PKK begonnen, doch die erwarteten Reformen und Zugeständnisse an die Kurden blieben aus. Das brachte der HDP Zulauf. Indirekt half ihr wohl auch der Waffenstillstand, in der Bevölkerung Misstrauen gegen die Kurdenpolitik abzubauen. Der Aufstieg der Kurden zu wichtigen politischen Akteuren in der Region, der im letzten Herbst im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien und Irak seinen Anfang nahm, hat sich nun auch in den türkischen Wahlen niedergeschlagen.

Vertreter von Minderheiten im Parlament

Das türkische Parlament ist nun bunter geworden, mit starken Stimmen der Minderheiten. Zum ersten Mal wird es drei armenische und zwei jesidische Abgeordnete geben – für die nationalistisch geprägte Türkei eine kleine Sensation. Überhaupt kann das Wahlergebnis als ein Sieg der demokratischen Türkei gewählt werden. Hatte es zuvor massive Zweifel gegeben, ob die Wahlen frei und fair verlaufen würden, so sind diese nun ausgeräumt. Dazu beigetragen haben auch zehntausende von freiwilligen Wahlbeobachtern – Beweis einer starken Zivilgesellschaft. Ruhig und besonnen haben die Türken von ihren Rechten Gebrauch gemacht – ein zumindest kleiner Hoffnungsschimmer für die krisengeplagte Region.

Schwierige Koalitionsbildung

Obwohl die größte Aufgabe noch bevorsteht: eine Regierung zu bilden. Alle Oppositionsparteien schlossen zuvor eine Koalition mit der AKP aus. Eine Koalition aus der sozialdemokratischen CHP, der ultrarechten MHP und der kurdennahen HDP scheint aber ebenso unwahrscheinlich, zu unterschiedlich sind die Parteiprogramme. In regierungsnahe Kreise werden bereits Rufe nach vorgezogenen Neuwahlen laut – obwohl die wohl kaum ein Ergebnis zugunsten der AKP bringen dürften. Angesichts der großen Herausforderungen – eine kriselnde Wirtschaft im Inneren, Krieg und Terror in den Nachbarstaaten – braucht die Türkei eine stabile, besonnene Regierung umso dringender.  

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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