Erdoğan zahlt nun den Preis für seine Anti-Europa-Hetze
In der türkischen Politik geht es oft rüde zu. Da fliegen im Parlament schon mal die Fäuste, beschimpft man den politischen Gegner gerne mit unflätigen Worten. Trotzdem kann es passieren, das genau diese Streithähne ein paar Monate später zusammen vor die Kamera treten und eine neue politische Allianz verkünden, so als wäre nichts gewesen.
Erst Faschisten, dann Freunde und Partner?
Genauso stellt sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan vermutlich auch seine Außenpolitik vor. Man erinnert sich: vor einem Jahr, im Wahlkampf zu seinem Präsidialsystem-Referendum, schimpfte Erdoğan ohne Unterlass auf Europa, nannte es faschistisch und zweigesichtig, warf Angela Merkel Nazi-Methoden vor und empfahl seinem Land, sich nach verlässlicheren Partnern in der Welt umzusehen.
Nach dem Treffen mit EU-Ratspräsident Ronald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude-Juncker am Montag erklärte Erdoğan hingegen, der EU-Beitritt sei das strategische Ziel der Türkei, er sprach von Freundschaft, Partnerschaft und gegenseitiger Hilfe.
Endlose Liste von Streitpunkten
Die EU-Seite zeigte sich keineswegs euphorisch. Tusk betonte, man habe in dem zweistündigen Treffen keine Lösungen oder Kompromisse gefunden. "Ich kann sagen, dass ich alle unsere Bedenken geäußert habe. Die Liste war lang." Jüngster Streitpunkt: Ankara stoppte im Februar mit Marineschiffen italienische Erdgasbohrungen vor Zypern, die EU erklärte das vergangene Woche für illegal. Zugleich steht die EU der türkischen Militäroperation in Syrien sehr kritisch gegenüber und zeigt sich besorgt über die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit in der Türkei.
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hatte vor dem Treffen noch einmal gefordert, die EU-Betrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen – sein Land übernimmt ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Immerhin erklärte sich Junker gestern zum Garanten der Verhandlungen mit der Türkei. Das höchste der Gefühle, zudem sich die EU durchringen konnte.
Hohe Erwartungen Erdoğans an die EU
Ebenso klein hielten europäische Medien das Thema, während türkische Zeitungen das Treffen beklatschten. Von einer Frühlingsluft mit Europa schrieb die Hürriyet schon im Vorfeld, von einer Gelegenheit, wieder gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. „Lasst uns zusammen ein starkes Europa errichten“ – Erdoğans Worte nach dem Treffen - wählte die regierungstreue Sabah heute als Aufmacher. Ganz so, als sei die Kehrtwende im türkisch-europäischen Verhältnis schon vollbracht.
Erdoğan hatte lange auf den Gipfel gedrängt, die EU einen solchen lange aufgeschoben. Schließlich räumte Brüssel ein zweistündiges Treffen in Form eines Abendessens ein. Groß waren die Erwartungen der Türkei, Erdoğan wiederholte sie auch gestern: Man erwarte schnellere Zahlungen der Finanzhilfen im Rahmen des Flüchtlingsdeals, Visa-Liberalisierung für Türken, eine Aktualisierung der Zollunionsverträge und Unterstützung für seine Militäroperation in Syrien.
Ankara braucht Europa gerade jetzt
In Zeiten kriselnder Wirtschaft, hoher Inflation und Arbeitslosigkeit sowie zunehmender außenpolitischer Isolierung führt für Erdoğan derzeit kein Weg an Europa vorbei. Zudem weiß er, dass europafeindliche Polemik in der nationalistisch geprägten Türkei zwar gut ankommt, eine EU-Perspektive oder zumindest Visa-Befreiungen für viele Türken aber trotzdem verlockend sind.
Allerdings glaubt auch in der Türkei niemand mehr, dass der EU-Beitritt eines Tages wahr werden könnte. „Wir haben der EU doch alles gegeben, was sie gefordert haben“ twittert etwas Erdoğan-Fan Metin Türkay, „Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Entweder müssen sie uns in die Union aufnehmen oder wir sollten unsere Bewerbung zurückziehen, es reicht langsam!“
Erdoğan lebt in einer Traumwelt
Journalist Yavuz Baydar analysiert auf Twitter: „Es gibt keine einzige Einigung, keinen Millimeter Fortschritt. Zwischen der Sprache der EU und der Sprache der Türkei gibt es eine dicke Mauer. Glauben Sie nicht an Lügennachrichten wie Visa-Erleichterungen nächsten Frühling!“ Politologe Cengiz Aktar betont im regierunsgkritischen Sender Artı TV, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit der EU doch schon längst beendet seien, trotz anderer Worte: „Erdoğan lebt in einer Traumwelt, leider.“
Zumindest scheint Erdoğan an den kurzfristigen Profit seines neuen Europa-Manövers zu glauben. Und sollte dies nicht funktionieren, könnte er ebenso schnell eine neue Kehrtwende vollbringen. Die letzten Jahre haben das dutzendfach gezeigt.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.