Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die bislang geltende Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl gegen das Grundgesetz verstößt. Ein fataler Fehler und eine erhebliche Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments, meint der sozialdemokratische Abgeordnete Bernhard Rapkay.
Die Entscheidung der Mehrheit der Bundesverfassungsrichter, eine Drei-Prozent-Klausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament für verfassungswidrig zu erklären, stellt eine erhebliche Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments dar. Ohne Sperrklausel gerade im größten EU-Mitgliedstaat Deutschland droht eine Zersplitterung des Parlaments, wenn unter Umständen eine Reihe von Kleinstparteien mit teils extremen Positionen einzieht.
Man muss nicht an die Weimarer Republik erinnern, um sich zu vergegenwärtigen, was das für die demokratischen Prozesse bedeuten kann. Auf Dauer wird die Bildung von Mehrheiten erheblich erschwert und kann letztlich dazu führen, dass nur noch die beiden großen Parteien der politischen Mitte zusammen mehrheitsfähig sind. Dabei wäre nicht nur eine sehr hohe Anzahl von im Europäischen Parlament vertretenen Parteien problematisch, sondern ebenso ihre extreme Heterogenität.
Die Europäische Union verliert an Demokratie
In der Folge heißt das, dass das Europäische Parlament als einzig direkt gewähltes europäisches Organ an Handlungsfähigkeit einbüßt und damit die Europäische Union an Demokratie verliert. Schon alleine um dem Ministerrat als Co-Gesetzgeber wirksam entgegenzutreten, bedarf es, wie etwa im Falle einer Zweiten Lesung, der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Das wird aber bei zunehmender Zersplitterung deutlich schwieriger, wenn nicht sogar kaum möglich sein.
Eine weiteres Beispiel: In diesem Jahr wird erstmals ein personalisierter Wahlkampf um das Amt des Präsidenten der EU-Kommission geführt. Der neue Präsident wird dann auf Vorschlag des Europäischen Rates und auf Basis der Ergebnisse der Europawahlen von der absoluten Mehrheit der Europaabgeordneten gewählt. Eine von einer Vielzahl kleiner Fraktionen geprägte Parlamentslandschaft wird dies erschweren.
Die parlamentarische Willensbildung wird komplizierter
Auch die parlamentarische Willensbildung wird komplizierter. Im Europäischen Parlament machen die unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischen Hintergründe der Abgeordneten es ohnehin schon für die Fraktionen schwierig, ihre Koordinierungs- und Willensbildungsfunktion zu erfüllen und eine gemeinsame Position zu finden. Durch den Wegfall einer Sperrklausel und die geschilderten Konsequenzen gibt es keinen Schutz mehr vor einer Aushöhlung dieser Funktion.
Leider hat nur eine Minderheit des Verfassungsgerichtes das so gesehen. Es spricht für sich, dass in nahezu jedem Mitgliedstaat der EU eine rechtliche oder faktische Zugangsbeschränkung für die Europawahlen besteht, entweder in Form des Wahlrechts oder aber in Form von Sperrklauseln.
Mangelnder Sinn für die Rolle Europas
Es ist zu bedauern, dass das Bundesverfassungsgericht die Chance vertan hat, der Sperrklausel die Verfassungsmäßigkeit zu bescheinigen und so die Vitalität und Handlungsfähigkeit der Europäischen Bürgervertretung zu bewahren und die Demokratie in Europa zu schützen. Hier haben Deutschlands oberste Richter leider erneut ihren mangelnden Sinn für die Rolle Europas und die Bedeutung des Europäischen Parlaments als Co-Gesetzgeber unter Beweis gestellt. Zudem leisten sie mit ihrer Geringschätzung des Europaparlaments einer sinkenden Wahlbeteiligung bei den Europawahlen im Mai Vorschub.
Nun gilt es umso dringender, dass sich die Bundesregierung wie im Koalitionsvertrag festgelegt für ein einheitliches europäisches Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament einsetzt. Denn dies ist die einzig verbleibende Möglichkeit, die skizzierten Auswirkungen zu verhindern und die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments dauerhaft zu wahren!
ist SPD-Europaabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament.