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Enrico Letta: „Die meisten wollen nicht den Rechten ihre Stimme geben“

Am Sonntag wählt Italien ein neues Parlament. Im Interview spricht Enrico Letta, Spitzendenkandidat des Partito Democratico, über die Gefahren von Rechts, den Einfluss Russlands auf die Wahl und die Vorbildfunktion von Olaf Scholz.
von Kai Doering · 23. September 2022
Ex-Ministerpräsident Enrico Lotta: Am Sonntag können die Menschen entscheiden, in welchem Land sie in Zukunft leben möchten.
Ex-Ministerpräsident Enrico Lotta: Am Sonntag können die Menschen entscheiden, in welchem Land sie in Zukunft leben möchten.

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Am Sonntag wird in Italien ein neues Parlament gewählt. Wie fühlen Sie sich so kurz vor der Wahl?

Ich bin sehr optimistisch. Unsere Wahlkampf hat mit vielen Schwierigkeiten und Hindernissen begonnen, aber jetzt ist der Trend bei vielen Themen positiv. Zudem werden die Widersprüche innerhalb der Rechten immer deutlicher. Sie sind bei viele Themen gespalten. Vergangene Woche haben sie beispielsweise beschlossen, Victor Orbán im Europäischen Parlament zu unterstützen, was in Italien viele negative Reaktionen hervorgerufen hat. Im Gegensatz dazu sind unsere Themen – Umwelt, individuelle Rechte und die soziale Agenda – in den letzten Wochen viel populärer geworden. Deshalb habe ich ein gutes Gefühl für den Wahltag.

Viele Wähler*innen sind zudem noch nicht entschieden, wie es scheint.

Genau! Auch deshalb sind wir in positiver Stimmung. Viele Wähler wissen immer noch nicht, wen sie wählen sollen. Das ist sehr ungewöhnlich. Viele von ihnen sind immer noch verwirrt wegen des unerwarteten Zusammenbruchs der Draghi-Regierung im Sommer. Ich bin sicher, dass die meisten nicht den Rechten ihre Stimme geben wollen, denn sie wissen, dass dies eine Katastrophe für Italien wäre. Deshalb arbeiten wir bis zum Schluss an unseren Sieg.

Wofür wollen Sie und der „Partito Democratico“ sich besonders einsetzen?

Es gibt drei Hauptthemen, die für Italien wichtig sind: Umwelt, individuelle Rechte und eine soziale Agenda. Wir stehen voll und ganz hinter dem EU-Umweltprogramm „Fit für 55“. Für meinen Wahlkampf haben wir einen Elektrobus gemietet, mit dem ich durchs Land fahre. Das ist hierzulande noch nicht üblich und aus technischen Gründen teilweise schwierig. Damit möchte ich aber zeigen, dass Italien in Sachen E-Mobilität noch einen weiten Weg vor sich hat. Wenn wir über individuelle Rechte sprechen, müssen wir zugeben, dass Italien in vielen Themen hinterherhinkt – bei der Integration der zweiten Generation von Einwanderern ebenso wie bei der Gewährung gleicher Rechte für die LGBTQ+-Community. Wir wollen zum Beispiel ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz verabschieden, mit dem es einfacher wird, Italiener zu werden. In vielen dieser Punkte ist unsere Position das genaue Gegenteil der Position von rechts. Am Sonntag können die Menschen entscheiden, in welchem Land sie in Zukunft leben möchten.

Haben diese Themen denn überhaupt eine Bedeutung, wenn die Menschen in Italien mit einer Energiekrise und steigenden Preisen konfrontiert sind?

Ich glaube schon. Italien ist nicht Deutschland. Bei vielen Themen hinken wir zehn Jahre hinterher. Bei uns gibt es zum Beispiel keine gleichgeschlechtliche Ehe. Gerade junge Menschen fordern aber eine fortschrittlichere Gesellschaft. Auch wenn wir uns jetzt in einer Phase der Energiekrise befinden, sind andere Themen immer noch wichtig und wir sind die einzige Partei, die sich mit ihnen befasst.

Bei den letzten Wahlen hat die „Fünf-Sterne-Bewegung“ gewonnen. Nun führen die „Fratelli d’Italia“ in den Umfragen. Warum sind Italiener so vernarrt in neue Personen und Parteien?

Seit zehn Jahren bewegt sich Italien von einer Krise in die nächste. Das löst Ängste in der Gesellschaft aus. Aus meiner Sicht ist dies der einzige Grund, warum die extreme Rechte so stark geworden ist. Vor allem, weil sie gut darin ist, mit Ängsten zu spielen und Vorteile daraus zu ziehen. Unser Diskurs als fortschrittliche Partei basiert auf Lösungen. Der Diskurs der Rechten basiert auf Ängsten. Auch Russlands Krieg in der Ukraine spielt eine sehr negative Rolle, weil er zusätzliche Ängste auslöst. Deshalb ist die Rechte dieses Mal in einer so guten Position. Das ist übrigens keine italienische Spezialität. Schauen Sie sich Frankreich an, schauen Sie sich Schweden an: Die Progressiven sind in vielen Ländern in der Defensive.

Spielen Fake News im Wahlkampf eine Rolle?

Leider ja, vor allem in den sozialen Medien. Wir vermuten, dass Russland hier einen gewissen Einfluss hat, weil sie sich sehr freuen würden, wenn die Rechten gewinnen würden.

Was würde es für Italien bedeuten, wenn Meloni und die „Fratelli“ wirklich gewinnen?

Das hätte zur Folge, was ich den italienischen Brexit nenne: Italien würde die Europäische Union vielleicht nicht verlassen, aber grundlegend verändern. Die italienische Rechte will einen Völkerbund bilden, wie es Orbán in Ungarn ebenso anstrebt wie Kaczyński in Polen. Sie stellen nationale Interessen über gemeinsame europäische Interessen und erpressen andere Länder, um zu bekommen, was sie wollen. Unsere Vision ist das genaue Gegenteil: Wir suchen nach europäischen Lösungen für nationale Probleme.

Am Montag haben Sie Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin getroffen. Haben Sie auch über dieses Thema gesprochen?

Ja, natürlich! Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Olaf Scholz pflichtet dem voll und ganz bei.

Haben Sie auch darüber gesprochen, wie er letztes Jahr die Bundestagswahl gewonnen hat?

Ja, und davon bin ich immer noch beeindruckt. Er hat einige Erfahrungen mit mir geteilt, denn er und die SPD haben gezeigt, dass man gewinnen kann, auch wenn die Vorzeichen nicht danach stehen.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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