Seit 1991 ist Lettland unabhängig. Seitdem marschieren jedes Jahr am 16. März lettische SS-Veteranen zum Freiheitsdenkmal in Riga und gedenken der Schlacht gegen die Rote Armee. Für viele Letten sind sie Freiheitskämpfer.
Es gibt ein schwarz-weiß Foto vom 18. November 1943: Eine Einheit der lettischen Waffen-SS-Freiwilligenlegion marschiert durch Riga. Auf dem rechten Kragenspiegel sitzt das Hakenkreuz, am linken Ärmel die Fahne von Lettland. Die lettischen SS-Angehörigen sind auf dem Weg zum Appell. Es ist der 25. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung Lettlands.
Veteranen dieser Verbände marschieren fast 70 Jahre später Mitte März 2012 durch Riga. Etwa 1500 von Ihnen sind gekommen. Ihr Aufmarsch ist gerichtlich erlaubt, wird von 1200 Polizisten geschützt und führt zum Freiheitsdenkmal inmitten der Hauptstadt, wo sie Blumen niederlegen. Lettland ist seit 1991 unabhängig. Seitdem marschieren die SS-Veteranen jedes Jahr am 16. März auf, gedenken der Schlacht gegen die Rote Armee, die sie mit der Wehrmacht hatten aufhalten wollen. Sie wurden überrannt.
Treue für Hitler
Adolf Hitler befiehlt Anfang Februar die Aufstellung einer lettischen SS-Freiwilligeneinheit. Gebildet wird diese Legion aus vier Bataillonen lettischer Schutztruppen, die bisher zur 2. SS-Brigade gehören. Die Angehörigen der 2. lettischen SS-Division und der 1. Division „Lettland“ schwören Hitler die Treue. Sie gehen in Lettland, Russland und Weißrussland rücksichtslos gegen die Zivilbevölkerung vor.
Nach einem solchen brutalen Einsatz wird der Kommandeur des lettischen Strafkommandos, Viktors Arajs 1942 zum SS-Sturmbannführer ernannt. Ein Jahr später erhält er das Kreuz für Kampfverdienste mit Schwertern. Zwölf Letten bekommen das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Die lettische SS zündet in den Gebieten von Nowgorod und Leningrad Dörfer an, die Einwohner werden erschossen.
Sieben Jahrzehnte später marschieren die Veteranen durch Riga, wollen an ihre 50 000 toten Kameraden erinnern und betrachten sich als die einzigen, die ihre Heimat gegen die Besetzung der Russen verteidigt haben. Und auch für viele Letten sind sie Freiheitskämpfer. Tatsächlich gehen die deutschen und die lettischen SS-Einheiten während des Krieges brutal gegen Partisanen, Verdächtige und Juden vor. Weshalb auch jedes Jahr der Aufmarsch der Veteranen eine Gegendemonstration auslöst.
Jüdische Gemeinde protestiert ohne Erfolg
Es sind wenige, die in diesem Jahr gegen die ehemaligen SS-Soldaten demonstrieren. Sie tragen die schwarz-weiß gestreifte Kleidung wie die ehemaligen KZ-Häftlinge. 85 000 Juden leben zum Zeitpunkt des von vielen Letten bejubelten Einmarsches der Wehrmacht in dem kleinen Ostseestaat. 70 000 werden von der SS umgebracht. Die jüdische Gemeinde und die russische Minderheit protestieren jedes Jahr gegen die alten SS-Männer. Ohne Erfolg.
Noch 1998 und 1999 war der 16. März nationaler Gedenktag. Die russische Regierung übte so viel Druck aus, dass die Regierung in Riga ihn abschaffte. Viel geändert hat sich nicht. Es gibt ein Denkmal auf dem Brüderfriedhof in Riga, das an die lettischen Gefallenen der Legion erinnert. Viele von ihnen sind hier auch begraben. Werden von vielen verehrt. Gegen niemanden wurde ermittelt. Niemand wurde vor Gericht gestellt. Bis heute nicht.
Doch es gibt noch etwas. Etwas, das in Europa weitgehend unbeachtet stattfindet: Es gab während der Besatzung Lettlands durch die Wehrmacht auch einen nationalen, antifaschistischen Widerstand. Deren Veteranen werden nicht verehrt, nach und nach wurden sie in den zurückliegenden Jahren vor Gericht gestellt mit dem Tatvorwurf, sie hätten gegen die lettische Waffen-SS gekämpft.
Deutsche Herrschaft mit grauenhaftem Ergebnis
Und es gibt den Fall des über 80jährigen russischen Ex-Partisanen Wassili Kononow. Er leitete 1944 eine Racheaktion gegen die Bewohner des kleinen Dorfes Mazie Batie. Sie sollen mit den Deutschen kollaboriert haben. Sechs Männer und drei Frauen werden erschossen. Das oberste lettische Gericht verurteilt den ehemaligen russischen Partisanen zu 20 Monaten Haft.
Das Ergebnis der Deutschen Herrschaft in Lettland ist grauenhaft. Gleiches gilt für Litauen. „Zwischen 1941 und 1944 verloren auf litauischem Territorium mindestens 420 000 Menschen ihr Leben,“ schreibt Christoph Dieckmann in seiner soeben im Wallstein Verlag erschienenen zweibändigen Studie „Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941 – 1944“. Es ist die erschütternde, großartige Dokumentation eines Verbrechens: „Über 200 000 Juden gerieten im Juni 1941 in Litauen unter deutsche Besatzungsherrschaft.
Sie mussten mit Entsetzen feststellen, dass die Eroberer nicht nur die pogromartige Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden zum Ziel hatten…sondern in systematischer Weise die Ermordung aller Juden anstrebten.“ Deutsche und Litauer brauchen nur wenige Monate: Dann haben sie in 200 Orten des Landes 150 000 Juden zusammen getrieben und ermordet. Als die Deutschen von der Roten Armee vertrieben werden, sind 95% der jüdischen Bevölkerung umgebracht.
„Dass das nationalsozialistische Deutschland eine mörderische, antisemitische Politik betrieben hat, war das eine, dass aber soviel Litauer mit gemacht haben, darin bestand der eigentliche Schock.“
ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).