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Eine revolutionäre Bürokratin

von Wolfgang Biermann · 21. September 2014

Ihre Grundlagen für eine Praxis der Gleichstellung machten Norwegen zu Europas Familienmusterland. Die Durchsetzung der „40-Prozent“-Quote in Aufsichtsgremien brachte einen Schub an Kreativität und Produktivität in Norwegens Unternehmen. Am 17. Oktober verstarb die Politikerin Karin Stoltenberg in Oslo.

Vielen bekannt ist sicher Ihr Sohn, Premierminister und Parteichef der Arbeiterpartiet (AP) Norwegens Jens Stoltenberg, und manchen Älteren auch ihr Mann, der ehemalige Außenminister Thorvald Stoltenberg. Weniger bekannt ist in Deutschland die historische Rolle, die Karin Stoltenberg bei der Entwicklung und Durchsetzung der umfassenden Gleichstellungspolitik in Norwegen hatte.

Stoltenbergs Grundlagen für eine „Praxis der Gleichstellung“

Als Büroleiterin im ehemaligen Ministerium für Verbraucherschutz erhielt sie die Aufgabe zugewiesen, eine norwegische Familienpolitik zu entwerfen. In ihrem Bericht an das Parlament (Stortinget) formulierte sie 1974 sehr praxisnah die Grundlagen und Ziele für eine umfassend neue Familienpolitik: Volle „Gleichstellung von Mann und Frau“ in Gesellschaft und Beruf, möglichst gleiche, hohe Beschäftigungsquote, schrittweise Ausweitung des voll bezahlten Elternurlaubs auf ein Jahr, Erhöhung der Geburtenrate (die damals ebenso wie in Deutschland sehr gesunken war), volle Kita-Betreuung ab dem zweiten Lebensjahr, Einheitsschule und schulische Ganztagsbetreuung für alle, Arbeitsbefreiung der Eltern bei Krankheit der Kinder usw.

Beinahe alle Vorschläge, die Karin Stoltenberg mit ihrem Bericht an den Stortinget 1974 und in späteren Initiativen für das Partnerschaftsgesetz und Adoptionsrecht für homosexuelle Ehepaare entwickelt hatte, sind inzwischen fast vollständig durchgesetzt.

1974 gab es zahlreiche Widerstände v.a. bei den bürgerlichen Parteien gegen die  vermeintliche „Zerstörung der Familie“, gegen das Recht der Frauen auf Verhütung und Schwangerschaftsabbruch. Männer aller Parteien hatten Bedenken, die „Hausfrauen“ ins Berufsleben zu drängen. Aber das waren die Kämpfe der 70er Jahre. Karin Stoltenberg hatte die einzigartige Rolle, nüchtern aus der „Idee der Gleichberechtigung“ Grundlagen für eine „Praxis der Gleichstellung“ zu entwickeln.

Ergebnis: Familienmusterland Norwegen

Gro Harlem Brundtland begann als Regierungschefin seit 1981 mit der gezielten Umsetzung dieser Gleichstellungspolitik. Als erstes setzte sie durch, den (vom Staat voll bezahlten) Schwangerschaftsurlaub von damals 18 Monaten per Gesetz jedes Jahr um 2 Monate zu verlängern – bis zu einem vollen bezahlten Erziehungsjahr.

Nach einem Zwischenspiel der Konservativen, die von dieser „Investition in Humankapital“ keine Abstriche machten, setzte die rot-rot-grüne Regierung unter Jens Stoltenberg seit 2005 die Gleichstellungspolitik energisch fort, u.a. durch die vollständige Kita-Versorgung für 99% der Kinder ab dem 2. Lebensjahr und die gesetzliche 40%-Quote in Führungsgremien der Aktiengesellschaften. Mittlerweile ist die Geburtenrate von Frauen in Leitungsfunktionen in „Europas Familienmusterland“ (laut Spiegel 14.08.2011) noch höher als bei norwegischen „Durchschnittsfrauen“: 1,95 Kinder pro Frau.

Was Karin Stoltenberg vor über 40 Jahren vorhergesagt hatte, hat sich als Realität erwiesen: Die einst von Gegnern beklagten „zu hohen Kosten“ für Elternurlaub und volle Kita-Deckung führten nicht nur zu einer der höchsten Geburtenraten in Europa, sondern sind auch eine gewinnträchtige Investition in „Humankapital“: Für den norwegischen Finanzminister ist „die Arbeitskraft der Frauen heute genauso wichtig für den Wohlfahrtsstaat wie das Öl“ (dagbladet).

„40-Prozent“-Quote für Europa 

Karin Stoltenberg hat nie öffentliches Ausheben um ihre Leistungen für die Modernisierung des norwegischen Wohlfahrtsstaates gemacht. Die Trauer um ihren Tod hat ihre historische Rolle als „revolutionäre Bürokratin“ (Überschrift in „dagbladet“) wieder in das öffentliche Bewusstsein gebracht.

Die norwegischen Zeitungen und Facebook-Meldungen der Politiker aller norwegischen Parteien sind in diesen Tagen voller Lob für Karin Stoltenbergs bescheidene wie starke Persönlichkeit und ihre Pionierrolle für die norwegische Gleichstellungspolitik. Zu den vorbildlichen Ergebnissen der damit verbundenen Investitionen in den „nordischen Wohlfahrtsstaat“ zählen nicht nur hohe Geburten und Beschäftigungsquote der norwegischen Frauen. Die „40-Prozent“-Quote in den Aufsichtsgremien der norwegischen Wirtschaft hat offenbar zu einem Schub an Kreativität und Produktivität beigetragen, so dass sich Unternehmen in Norwegen besonders um weibliche Führungskräfte bemühen.

Es wäre gut, wenn sich auch in Deutschland und der EU bald dieses Vermächtnis von Karin Stoltenberg durchsetzen würde. 

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