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Ein Jahr nach dem Putsch: Ist Myanmar das nächste Syrien?

Nach dem Militärputsch in Myanmar vor einem Jahr versinkt das Land in einem offenen Bürgerkrieg. Die Staatengemeinschaft muss verhindern, dass das Land zu einem zweiten Syrien wird. Und auch Deutschland muss mehr tun.
von Nyein Chan May · 2. Februar 2022
Solidaritätsdemonstration für Myanmar in London: Ein Jahr nach dem Militärputsch versinkt das asiatische Land im Bürgerkrieg.
Solidaritätsdemonstration für Myanmar in London: Ein Jahr nach dem Militärputsch versinkt das asiatische Land im Bürgerkrieg.

Vor einem Jahr putschte das Militär in Myanmar gegen die demokratisch gewählte Regierung von Aung San Suu Kyi. Man kann diesen traurigen Jahrestag als ein Zeichen der Zeit lesen. Allein in den vergangenen sechs Monaten bereiteten auch Coup d’États in Sudan und Burkina Faso einem fragilen demokratischen Frühling ein jähes Ende. Viele sehen darin eine globale Krise der Demokratie, und laut dem Democracy Index des „Economist“ lebt inzwischen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung unter autoritären Regimes.

Aber in diesem globalen Trend wie in vielen anderen ist Myanmar kein Randgebiet, sondern ein zentraler Schauplatz. Myanmar liegt im Zentrum des strategisch wichtigen Indopazifik, eingerahmt von China und Indien. Es ist stark betroffen von den großen globalen Problemen unserer Zeit. Klimawandel und Extremwetter sind existienzielle Bedrohungen; schon 2007 kamen hier durch einen Zyklon Hunderttausende von Menschen zu Tode. Identitätskonflikte führten 2017 zur Vertreibung von 700.000 Rohingya und lösten eine schwere regionale Flüchtlingskrise aus.

Die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie ist groß

Die myanmarische Demokratie war ein unvollendetes Experiment, das in den vergangenen Jahren immer wieder durch mangelnden Reformwillen und Ethnonationalismus behindert wurde. Trotzdem kann niemand, der die demokratischen Wahlen von 2015 und 2020 erlebt hat, die tiefe Sehnsucht der myanmarischen Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und einer besseren Zukunft bezweifeln.

Gegen den Putsch vor einem Jahr bäumte sich daher praktisch die gesamte myanmarische Gesellschaft auf. Künstler und Gewerkschafterinnen, Lehrerinnen und Aktivisten, Krankenschwestern und Bergleute – alle gingen sie auf die Straße. Bis Juni vergangenen Jahres fanden nahezu 5.000 Protestveranstaltungen statt. Millionen standen für ihre demokratischen Rechte ein. Streiks legten die öffentliche Verwaltung, das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung lahm. Mit solchem leidenschaftlichen Widerstand hatten die Putschisten nicht gerechnet. Sie schlugen die friedlichen Proteste mit schockierender Brutalität nieder. 1.500 Menschen sind bisher gestorben, und 9.000 wurden festgenommen.

Inzwischen befindet sich Myanmar in einem offenem Bürgerkrieg. Von gewählten Abgeordneten wurde eine Gegenregierung gebildet (das National Unity Government) und Demonstranten und Widerständskämpfer haben sich zu Volksmilizen zusammengeschlossen. Am 7. September 2021 erklärte die Gegenregierung der Junta den Krieg „zur Verteidigung des Volkes“. Einige ethnische Gruppen haben sich diesem Kampf angeschlossen. Sie stehen einer zahlenmäßig weit überlegenen und ungleich besser ausgestatteten Armee gegenüber. Die International Crisis Group sieht eine „tödliche Pattsituation“, in der keine Seite stark genug ist, die andere militärisch zu überwinden, und sie stuft Myanmar für 2022 als einen der „10 Conflicts to Watch“ ein. Beobachter ziehen bereits Parallelen zu Syrien und befürchten den endgültigen Zerfall des myanmarischen Staates.

Einen Friedenplan gibt es nur auf dem Papier

Aber jenseits der großen Politik schockiert vor allem das Trauma, das die Gräueltaten des vergangenen Jahres in der Bevölkerung hinterlassen haben. Ein junger Aktivist schreibt anlässlich des Jahrestages des Putsches:„Ich denke an die Dinge, die ich im vergangenen Jahr gesehen habe: Menschen, die auf der Straße erschossen wurden, Demonstranten, die von Militärfahrzeugen überfahren wurden, (...), die leblosen Körper kleiner Kinder, die auf dem Schoß ihrer Eltern lagen. Es ist wie ein Horrorfilm voller Szenen, die ich nie wieder sehen möchte.“

In der Lösung dieser Krise wird nun dem südostasiatischen Staatenbund ASEAN die führende Rolle zugemessen. Aber ASEAN ist gespalten in autoritäre Regimes wie Thailand, Kambodscha, Vietnam und Demokratien wie Indonesien und Malaysia. Ein Fünf-Punkte-Plan, der einen Waffenstillstand, Verhandlungen und humanitäre Hilfe vorsieht, existiert bisher nur auf dem Papier.

Die EU wiederum versuchte, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und verzichtete auf breite Sanktionen, die nur der krisen- und pandemiegebeutelten Zivilbevölkerung geschadet hätten. Die stattdessen verhängten gezielten Sanktionen gegen Generäle und ihre wirtschaftlichen Interessen sind der richtige Weg. Sie haben aber nur begrenzte Wirkung auf die Junta, der aus Moskau und Beijing eine Rettungsleine zugeworfen wird. Im Notfall können sich die Machthaber durch Myanmars Bodenschätze oder die Rodung der letzten Regenwälder des Landes bereichern.

Als größter Investor innerhalb ASEAN und wichtigster Partner der Region in der Entwicklungszusammenarbeit, sollte die EU ihren Einfluss nutzen und auf der Umsetzung des Fünf-Punkte-Plans bestehen. Seit 2020 besteht zwischen EU und ASEAN eine strategische Partnerschaft, die auch der regionalen Sicherheit und Stabilität der Region dienen soll. In dieser Partnerschaft muss Myanmar 2022 an die Spitze der Prioritäten rücken.

Was kann Deutschland tun?

Und die Bundesregierung? Sie sollte Myanmar auch in den bilateralen Beziehungen mit anderen Staaten stärker in den Fokus rücken. Mit Singapur, wo die myanmarischen Generäle und Oligarchen ihre Konten haben. Mit Thailand, das Tausenden Geflüchteten aus Myanmar eine klare Bleibeperspektive verweigert. Mit Serbien und der Ukraine, die das myanmarische Militär in der Vergangenheit immer wieder mit Waffen versorgten. Und mit China, das sich zwar mit den Putschisten zu arrangieren scheint, aber hinter den Kulissen auch mit Vermittlungsversuchen liebäugelt.

Erste Kontakte zwischen dem Auswärtigen Amt und dem myanmarischen National Unity Government sind ein Schritt in die richtige Richtung, um die Gegenregierung international zu legitimieren. Aber um wirklich ein Zeichen zu setzen, sollte Deutschland den myanmarischen Militärattaché ausweisen. Deutschland ist das einzige EU-Land, das einen hochrangigen General aus Myanmar zu Gast hat. Dass ein Vertreter der Junta damit im Herzen Europas ungestört agieren kann, ist untragbar.

Aber Myanmars humanitäre Lage verlangt ebenso nach entschiedenen Maßnahmen. Entwicklungshelfer erleben eine beispiellose Notlage in dem Land, die Ernährung von 13 Millionen Menschen ist akut gefährdet. Die Vereinten Nationen beziffern ihren „Humanitarian Response Plan 2022“ mit über 740 Millionen Euro. Deutschland zog sich 2020 infolge der Rohingya-Krise aus der Entwicklungshilfe für Myanmar zurück. Angesichts der dramatischen Lage im Land sollte die neue Bundesregierung diese Entscheidung überdenken und unbürokratische neue Hilfen mobilisieren, gerade für ethnische Gebiete und lokale Nichtregierungsorganisationen.

Darüber hinaus kann gefährdeten Aktivisten in Deutschland und der EU ein Zufluchtsort geboten werden. Nur 45 myanmarische Bürger haben laut Eurostat in 2021 in Deutschland Asyl beantragen können – verglichen mit Hunderttausenden, die sich als Teil des zivilen Ungehorsam gegen das Militär stellten und von denen sich viele nun vor den Schergen des Regimes verstecken müssen. Im Rahmen des Resettlement-Abkommens der EU mit dem UN-Flüchtlingskomissariat sollte die Bundesregierung darauf dringen, ein größeres Kontingent myanmarischer Geflüchtete aufzunehmen.

Internationale Solidarität, moderne Friedenspolitik und die viel beschworene wertegeleitete Außenpolitik – all das wird 2022 durch die Myanmar-Krise getestet. Deutschland hat die Gelegenheit, Worten nun Taten folgen zu lassen.

Autor*in
Nyein Chan May

ist eine myanmarische Studentenführerin und Aktivistin, die in Würzburg Politikwissenschaften studiert. Sie ist Vorsitzende des Vereins German Solidarity with Myanmar Democracy e.V.

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