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Ein Jahr „Charlie Hebdo“: Schwanken, aber nicht untergehen

Ein Jahr nach dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ behauptet Frankreich trotzig seine republikanischen Werte. In Paris will man vor allem eins: nach vorne schauen, sich nicht einschüchtern lassen. Eindrücke aus der Seine-Metropole.
von · 7. Januar 2016
Charlie Hebdo
Charlie Hebdo

Genau ein Jahr ist es her, dass Attentäter die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ stürmten – zwölf Menschen starben, darunter fünf legendäre Karikaturisten. Dass zwei Tage später, bei einem Überfall auf den jüdischen Supermarkt „Hyper Cacher“, vier weitere Menschen ermordet wurden, geriet schon damals fast in den Hintergrund.

Dann der Schock. Nur ein paar Monate später, am 13. November: Wieder ein Terroranschlag, diesmal an fünf verschiedenen Orten in Paris, mit 130 Toten und Hunderten Verletzten. Frankreich ist aufs Tiefste getroffen, diese Nation, die sich früher „Grande Nation“ nannte, und die jetzt trotzig die Prinzipien der Republik proklamiert: eins und unteilbar, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Paris und der Terror: Strenge Ausweiskontrollen

Ein Jahr nach „Charlie Hebdo“, zwei Monate nach den Paris-Attacken, scheint auf den ersten Blick alles normal in der Seine-Metropole. Wären da nicht die schwer bewaffneten Polizisten am Bahnhof, die mit grimmiger Miene die Ausweise der Reisenden kontrollieren. Wer mit dem Thalys am Gare du Nord ankommt, steht zehn Minuten in der Kontrollschlange. Ob die Kontrollen was bringen? Ob ein kurzer Blick auf den Ausweis Anschläge verhindern kann? Fraglich. Mehrere der Attentäter vom 13. November waren im Vorfeld kontrolliert worden, wurden aber nicht festgehalten. Und nicht immer ist ein potenzieller Attentäter geheimdienstlich schon bekannt.

Auf der Place de la République im Nordosten Paris’ brennen rund um das Denkmal – die Personifikation der französischen Republik, Marianne – immer noch Kerzen, liegen Bilder und Plakate. Auf einer Kinderzeichnung ist ein Mädchen in einem bunten Kleid abgebildet, daneben steht schlicht „La Paix“, der Frieden. Auf anderen wird den Opfern des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ gedacht, in Form von Zeichnungen oder provokativen Ansagen: „Ihr zwingt uns nicht in die Knie!“ Ein Graffiti zeigt den Pariser Wappenspruch: Fluctuat nec mergitur – Sie schwankt, aber geht nicht unter. Seit den Anschlägen erlebt dieser Spruch eine Renaissance, spendet Trost und steht für eine kämpferische Haltung. Immer wieder begegnet man ihm an verschiedenen Orten in der Stadt.

Gedenken wird zur touristischen Attraktion

Tausende versammelten sich im Januar und November 2015 auf der Place de la République, sendeten eine Botschaft an die Terroristen: Wir haben keine Angst! Heute nutzen vor allem Touristen den Platz für Erinnerungsfotos. Schnell vor dem Denkmal positioniert, sind die Kerzen und Bilder auch gut zu sehen? Klick, schon ist die Erinnerung im Kasten. Zeit, kurz innezuhalten und die Szenerie als das zu begreifen, was sie ist – ein Ort des Gedenkens – bleibt so nicht. Die Place de la République, das Gedenken an die Opfer des Terrors, beides gehört nun zu den vielen touristischen Attraktionen in Paris. Ein weiterer Punkt auf der Reise-to-do-Liste.

Am gestrigen Mittwoch ist die Jubiläums-Ausgabe von „Charlie Hebdo“ erschienen: Das Titelbild zeigt Gott als flüchtigen Terroristen, die Schlagzeile dazu lautet „Ein Jahr danach – der Mörder läuft noch immer frei herum.“ Die Ausgabe ist mit Hilfe von Redakteuren, ehemaligen Mitarbeitern und zahlreichen Freunden des Magazins entstanden, auch der deutsche Zeichner Ralf König ist dabei. Mittags ist die Jubiläums-Ausgabe an vielen der typischen Pariser Zeitungskiosken bereits ausverkauft – da, wo druckfrische „Charlie Hebdo“-Magazine liegen sollten, bleibt nur ein Zettel: „Heute: die neue Ausgabe von ‚Charlie Hebdo‘, hier zu kaufen“.

Grundsatzdiskussion über nationale Werte und Prinzipien

In einem Interview im Magazin „L’Express“ berichtet Maryse Wolinski, Witwe des Zeichners Georges Wolinski, dass die 4,3 Millionen Euro, die die Angehörigen der Opfer erhalten sollten, immer noch nicht ausgezahlt wurden. Ein „Charlie Hebdo“-Anwalt hätte ihr nun versichert, dass die Angelegenheit Anfang 2016 geregelt würde: „Ich würde das gerne glauben.“ In der gleichen Ausgabe findet sich auch ein Interview mit Laurent Sourisseau, Riss genannt, seit dem 19. Januar 2015 directeur de publication von „Charlie Hebdo“. Er sagt: „Ich finde es total absurd, von Islamophobie zu sprechen (…). Die Beziehung zwischen dem Islam und unserer Vorstellung von Demokratie anzusprechen hat nichts mit irgendeiner ‚Phobie‘ zu tun, es ist eine wirkliche Debatte über die Gestaltung unserer Gesellschaft. Welchen Platz haben Religionen im Allgemeinen in einer freien und offenen Welt? Es sind Fragen, auf die wir schon vor langem geantwortet haben. Vielleicht müssen wir jetzt nur unsere Prinzipien erneut bekräftigen.“

Frankreich befindet sich, ähnlich wie Deutschland, in einer Grundsatzdiskussion über nationale Werte und Prinzipien, über Integration – und auf beiden Seiten des Rheins profitieren rechte Parteien: vom Gefühl der Unsicherheit, vom immer hemmungsloser zur Schau gestelltem Rassismus, von der Islamophobie. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“, so sehen es die Franzosen, war ein Anschlag auf die Republik. Umso nachdrücklicher behaupten sie nun diese Prinzipien, vor allem die Trennung von Kirche und Staat.

„Paris ist ein Fest“

Paris gedenkt, aber es will auch nach vorne schauen, will sich seinen Esprit, seine Leichtigkeit zurückerobern. Plakaten überall in der Stadt verkünden: „Paris est une fête“, Paris ist ein Fest – inspiriert von Hemingways Ode an Paris „Paris – ein Fest fürs Leben“ (A moveable feast). Sie schwankt, aber geht nicht unter. Auch ein Jahr nach dem 7. Januar, zwei Monate nach dem 13. November nicht.

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