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Ein Angriff auf die Symbole Frankreichs

Es war nicht nur die schwerste Anschlagsserie seit Jahrzehnten in Frankreich. Die Gewalttaten der vergangenen Tage zielten mitten ins Herz der Republik. Dort ist das Zusammenleben der Religionen in den vergangenen Jahren schwieriger geworden.
von Christine Longin · 10. Januar 2015
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Es war ein sichtlich mitgenommener François Hollande, der am Freitagabend kurz vor 20 Uhr im Elysée-Palast vor die Kamera trat. "Frankreich hat die Stirn geboten", sagte der Präsident. Es war seine zweite feierliche Ansprache an die Nation, seit zwei bewaffnete Männer am Mittwoch das Satiremagazin "Charlie Hebdo" mitten in Paris überfallen und zwölf Menschen kaltblütig umgebracht hatten. Mehr als 50 Stunden später war die Zahl der Toten der Anschlagserie auf 17 gestiegen – plus drei Attentäter, die sich selbst als radikale Islamisten bezeichnet hatten.

"Die Terroristen wollten die Symbole Frankreichs angreifen", bemerkte Regierungschef Manuel Valls am Morgen nach dem mehr als 50-stündigen Nervenkrieg, den Spezialeinsatzkräfte mit der Erschießung der drei Täter beendet hatten. Der Sozialist zählte die Ziele noch einmal auf: eine Zeitung, eine Polizistin und ein jüdischer Lebensmittelladen, wo ein 32-Jähriger am Freitag zu Beginn einer mehrstündigen Geiselnahme vier Menschen erschoss. Für Valls ist dieser Supermarkt ein "Symbol des Zusammenlebens".

Zahl jüdischer Auswanderer auf Rekordhoch

Doch das "Vivre ensemble" klappt schon lange nicht mehr so gut in Frankreich. "Um das Zusammenleben, das Ziel der Terroristen, war es am Mittwochmorgen schlecht bestellt, wenn die Salven aus Kalaschnikows es zur Explosion bringen konnten", schrieb die Zeitung "Le Monde."

Die Zahl der Angriffe auf islamische Einrichtungen ist innerhalb eines Jahres um 30 Prozent gestiegen, die Zahl der antisemitischen Übergriffe hat sich verdoppelt. Mit rund 7000 hat die Zahl der französischen Juden, die nach Israel auswandern, im vergangenen Jahr einen Höhepunkt erreicht. Aus keinem anderen Land schließen sich so viele Juden der "Alija" (die Rückkehr in das gelobte Land) nach Israel an wie aus Frankreich.

Aber der Dachverband jüdischer Organisationen, CRIF, will sich dem Terror nicht beugen. "Ich glaube, man muss auf alle Fälle normal weiterleben", sagte CRIF-Präsident Roger Cukierman am Samstag im Radio. "Man darf sich die Todesdrohungen nicht auferlegen lassen." Deshalb hält er es für wichtig, am Sonntag an der  Gedenkveranstaltung für die Opfer teilzunehmen. Es soll auch ein Marsch für die Pressefreiheit werden, denn die Attentäter wählten "Charlie Hebdo" bewusst als Ziel. Die Zeitung machte sich mit ihren Karikaturen über Fanatiker jeder Art lustig, auch oft gegen muslimische Eiferer. "Wir haben den Propheten gerächt", riefen die Angreifer, nachdem sie die Hälfte der Redaktion mit ihren Kalaschnikows erschossen hatten.

Muslime distanzieren sich von Tätern

Die muslimischen Gemeinden Frankreichs distanzierten sich sofort von den Tätern. "Ihr Hass, ihre Barbarei, hat nichts mit dem Islam zu tun", sagte der Imam von Drancy, Hassen Chalghoumi. Dennoch wurden danach mehrere Moscheen beschmiert oder Feuer gelegt. "Keine Vermengung", warnte Hollande sofort nach der ersten Tat und erneut am Freitag. Die fanatischen Angreifer hätten nichts mit dem Islam zu tun. Frankreich hat mit fünf Millionen Mitgliedern die größte muslimische Gemeinde Europas.

Juden, Muslime und Vertreter von Katholiken und Protestanten wollen am Sonntag auf die Straße gehen. Es ist mehr als ein Zeichen des Zusammenstehens. "Résister" lautete der Titel der Zeitung "Libération" am Samstag. "Widerstand leisten" – wie zu Zeiten der Nazi-Besatzung Frankreichs. Doch diesmal geht es um den Widerstand gegen die Gewalt der Terroristen, gegen die Bedrohung der Werte der Republik: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die sind in den vergangenen Jahren zunehmend in Vergessenheit geraten. Schuld daran ist auch die Krise, die den Aufstieg des Front National (FN) begünstigte. Mit 25 Prozent wurde der FN bei den Europawahlen vergangenes Jahr stärkste Partei. Die rechtspopulistische Partei hetzt seit Jahren gegen Einwanderer und vor allem gegen die Muslime. "Offene Worte" gegen den radikalen Islam kündigte FN-Chefin Marine Le Pen schon wenige Stunden nach dem Angriff auf "Charlie Hebdo" an. Die nationale Einheit, zu der Hollande aufgerufen hat, ist für sie nur eine hohle Phrase. "Ich bin nicht Charlie", sagte ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, am Samstag. Ein Nein zur Solidaritätsbewegung für das Satireblatt und alles, was es bedeutet.

Autor*in
Christine Longin

Christine Longin begann ihre journalistische Laufbahn bei der Nachrichtenagentur AFP, wo sie neun Jahre lang die Auslandsredaktion leitete. Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Frankreich, zuerst für AFP und seit Juli für mehrere Zeitungen, darunter die Rheinische Post.

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