"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dies ist ein Grundrecht in unserem Staat. Und die Würde der Frau im Besonderen, wird hierzulande zumindest ernst genommen - trotz vieler Unterschiede,
die es zwischen den Geschlechtern noch gibt. Wird hier ein Mädchen mit 13 oder 14 Jahren schwanger, ruft dies Empörung hervor und die Gesellschaft hinterfragt es. In vielen Ländern dieser Welt
ist es hingegen völlig normal, dass junge Mädchen Kinder bekommen und mit 30 schon Großmütter werden.
Lebenslügen
Eine afghanische Frau, irgendwo in dem steinzerklüfteten Land: Mit ihren beiden Kindern lebt sie in einem Dorf, das ständigen Bombardements ausgesetzt ist. Diese Frau hat Angst. Sie bangt
um ihr Leben und noch mehr um das ihrer Kinder. Etwas ist geschehen, dass ihre Situation ausweglos macht. Ihr Mann liegt im Koma. Wegen einer Streiterei von den eigenen Leuten angeschossen hängt
er nun völlig hilflos am Tropf. Er ist ihr ausgeliefert.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Macht über ihn und dies verleiht ihr ungeahnte Kräfte. Sie findet den Mut, ihm die vielen Lügen, die sie ihm über die Jahre aufgetischt hat, an den
Kopf zu werfen. Mit jedem Tag, den er bewegungslos vor ihr liegt, bricht es mehr aus ihr heraus. Es sind Lügen, die sie die Jahre ihrer Ehe überleben ließen. Die größte sicherlich, dass die
beiden Kinder nicht von ihm sind. Aus Angst, wegen Kinderlosigkeit verstoßen zu werden, war sie zu einem "Heiler" gegangen. Dieser mit Problemen afghanischer Frauen Vertraute brachte sie mit
einem jungen Afghanen zusammen, der nur dafür da ist, junge Frauen zu schwängern. Sie nahm diese Schmach in Kauf: nicht aus Liebe zu ihrem Mann, sondern aus Angst vor einem Leben als Verstoßene.
Was Liebe ist, weiß sie nicht. Wie so viele wurde sie sehr jung und völlig unerfahren in die Ehe mit einem viel älteren Männern gezwungen. Der Luxus einer Liebesheirat ist den meisten Afghaninnen
nicht vergönnt.
Überleben
Je länger der Mann im Koma liegt, um so mehr befreit sich die Frau von den vielen unterdrückten Gefühlen und Verletzungen. Sie redet sich den Missbrauch, die Schläge, die Verzweiflung von
der Seele. Im eigenen Haus war sie vergewaltigt worden und hatte es resignierend hingenommen. Sie hatte sich dem jungen Soldaten hingegeben, der stotternd ihre Aufmerksamkeit suchte. Auch er war
ein Opfer. Der Krieg hatte ihn an seinen Vorgesetzten ausgeliefert, der ihn misshandelte. Bei der Frau hatte er nicht Liebe gesucht, sondern Wärme und Schutz.
Und über ihre Angst vor der Zukunft spricht die Frau. Stirbt ihr Mann, steht sie allein da: ohne Geld, ohne Schutz. Überlebt er und wacht auf, geht das Leben weiter wie vorher: voller
Schrecken. Als Frau hat sie keine Wahl.
Afghanistan ist ein Begriff für Krieg und Verzweiflung. Rahimi gelingt es dieses Leid an seiner Heldin festzumachen. Sie steht synonym für alle Frauen, die ausweglos in einem Kokon von
Gewalt und Hilflosigkeit gefangen sind. Er verleiht ihr eine Sprache, die sehr kraftvoll ist. Am Ende des Romans ist nichts mehr wie es war.
Atiq
Rahimi: Stein der Geduld, Ullstein Verlag, 2009, 167 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-550-08786-8