Die Türkei wird Zuflucht für russische Oppositionelle – und für Reiche
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Im liberalen Istanbuler Stadtteil Kadiköy hört man in diesen Tagen an jeder Ecke russisch. Doch es sind nicht die üblichen lärmenden Tourist*innen, die Selfies schießen und Souveniers kaufen. Es sind Russ*innen mit Tüten voller Gemüse in der Hand, alternativer Kleidung und schüchternem Blick. Sie sind gekommen, um zu bleiben – zumindest vorerst.
Einer von ihnen ist der 35-jährige Michail aus Moskau. Eigentlich heißt er anders, aber aus Angst will er anonym bleiben, selbst im Exil. Er ist Journalist einer regimekritischen russischen Online-Zeitung, die bei Kriegsbeginn verboten wurde, weil sie sich entschieden gegen die Invasion positionierte. Für ihn wurde es in seiner Heimat immer gefährlicher, also flüchtete er Hals über Kopf nach Istanbul. Viele seiner Kollegen taten es ihm nach. Die Türkei hat ihren Luftraum für russische Flieger bisher nicht gesperrt, für die Einreise brauchte Michail kein Visum, zwei Monate darf er ohne Aufenthaltsgenehmigung bleiben.
Flucht vor Putin und dem Militär
Untergekommen ist er auf der Couch eines einheimischen Journalisten. Hier arbeitet er am Wohnzimmertisch, fast ununterbrochen. Seine Online-Zeitung wird nun aus dem Exil produziert: „Ich bin geflohen, um weiter arbeiten und das russische Volk über die Wahrheit dieses Krieges informieren zu können“, sagt er. Außerdem fürchtet er sich wie so viele junge Russen vor dem Wehrdienst, wollte einer Generalmobilmachung zuvorkommen. Michails eigene Großmutter unterstützt Putin, schaut unablässig russisches Staatsfernsehen. Über seine Flucht weiß sie nichts: „Sie glaubt, ich bin beruflich im Ausland. Irgendwie stimmt das ja auch.“ Er lächelt traurig.
Hunderte, vermutlich tausende von Russ*innen sind seit Beginn des Krieges in die Türkei geflüchtet. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand so genau. Es ist nicht das erste Mal, das Istanbul zum Zentrum der russischen Diaspora wurde: Schon während und nach der Oktoberrevolution 1917 flohen über 200.000 Gegner*innen der Bolschewik*innen an den Bosporus. Jahrelang prägten sie das Bild der Stadt. Noch heute gibt es hier eine lebendige russische Community, die türkische Wirtschaft und vor allem der Tourismus hängen stark von Russland ab.
Alle verurteilen den Ukraine-Krieg
In dem zivilgesellschaftlichen Zentrum Postane im Stadtteil Galata stehen die Türen für russische Exilant*innen seit Kriegsbeginn weit offen. Hier werden ihnen kostenlos Schreibtische, Tonkabinen und Schnittplätze zur Verfügung gestellt, manche Russ*innen kommen regelmäßig, um Youtube-Videos oder Podcasts zu produzieren. Gleichzeitig hilft das Zentrum, günstige oder gar kostenfreie Unterkünfte oder einen Job zu finden, hat bereits zwei große Exilant*innen-Zusammenkünfte veranstaltet.
Die türkische Mitarbeiterin des Zentrums Ayse Adanali und zeigt eine Liste der Teilnehmer*innen: Filmemacher und LGBT-Aktivistinnen, aber auch IT-Experten, Models und eine Fingernageldesignerin. Viele, aber nicht alle waren in ihrer Heimat politisch aktiv; manche flohen aus Angst vor dem Wehrdienst, wegen den Sanktionen oder weil sie die aggressiv-nationalistische Stimmung in ihrer Heimat nicht mehr ertragen konnten. Doch alle eint, dass sie den Ukraine-Krieg verurteilen. „Vor der Zusammenkunft fragten mich einige von ihnen höflich, ob sie dort russisch reden dürften“, erzählt Adanali. „Natürlich, antworteten wir. Nach dem Treffen weinten einige von ihnen und bedankten sich. Sie sagten, aus Angst und Scham hätten sie lange Zeit kein Russisch mehr gesprochen.“
Viele Programmierer*innen verlassen Russland
Vor allem Programmierer*innen, die derzeit scharenweise Russland den Rücken kehren, versuchen sich in Istanbul eine neue Existenz aufzubauen. Viele von ihnen arbeiten nun aus dem Home-Office, werden weiterhin bezahlt. Damit zählen sie zu den Glücklicheren. Doch seit Russland aus dem SWIFT-System ausgeschlossen wurde, haben sie keinen Zugriff auf ihre russischen Konten, können ihre Masterkarten nicht verwenden. Bloß einige russische Kreditkarten funktionieren in der Türkei, allerdings werden für das Abheben von Bargeld horrende Gebühren verlang.
Trotzdem strömen weiter Russ*innen ins Land, unter ihnen auch etliche Superreiche. Der Chef des Istanbuler Swissôtel Ahmet Özkan verrät, dass sich derzeit viele vermögende Russ*innen in seinem 5-Sterne-Hotel aufhalten. Bezahlen würden sie meist in bar. In Partnerhotels in Antalya hätten manche Russ*innen gar Suiten für mehrere Monate angemietet, so Özkan. Zwar erwarten günstige All-Inklusive-Hotels an der Südküste, die in den vergangenen Jahren Millionen von russischen Tourist*innen beherbergten, aufgrund der Sanktionen herbe Einbußen. Doch türkische Luxus-Herbergen könnten nicht klagen, sagt der Hotelier: „Die Anzahl der russischen Touristen mag sinken, aber wir erwarten einen Anstieg der Ausgaben pro Kopf“, so Özkan.
Reiche Russ*innen kaufen teure Immobilien
Immobilienmakler*innen in Istanbul, Antalya und Bodrum berichten, dass reiche Russ*innen derzeit scharenweise Wohnungen und Häuser in der Region kaufen. „Pro Tag verkaufen wir sieben bis acht Immobilien an Russen“, erklärte die Chefin der Istanbuler Immobilienfirma „Golden Sign“ Gül Gül der Nachrichtenagentur Reuters. „Es sind keine Oligarchen, aber reiche Russen. Manche unserer Kunden kaufen gleich drei oder fünf Wohnungen“, so Gül. Bezahlt würde in bar oder Gold. Russ*innen können so ihr Vermögen in Sicherheit bringen und leicht eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten.
Das macht sich bereits am Markt bemerkbar: Die Immobilienpreise in Istanbul und Antalya sind in den vergangenen Wochen explodiert. Für die ohnehin inflationsgeplagte türkische Mittelschicht ist das fatal, Bauunternehmer*innen hingegen jubeln. In lokalen Medien machen zudem Gerüchte die Runde, Oligarch*innen würden versuchen, ihr Vermögen in die Türkei zu bringen, etwa in dem sie es auf türkische Firmen überschreiben. Offizielle Statements gibt es dazu freilich nicht. Dass die Mega-Yachten des Oligarchen Roman Abramovich vor Bodrum vor Anker liegen, ist dagegen längst kein Geheimnis mehr.
Türkische Regierung will profitieren
Für die türkische Regierung ist das eine heikle und zugleich verlockende Lage. Einerseits verurteilt Erdogan den Ukraine-Krieg scharf, nähert sich seit Beginn der Invasion der EU und den USA wieder an. Zugleich hat sich Ankara den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen, will es sich mit Putin nicht verscherzen. Erdogan könnte das Geld russischer Investor*innen dringend gebrauchen, um seine angeschlagene, von Währungskrise und Hyperinflation gebeutelte Wirtschaft und damit auch seine eigene Macht zu retten. Und so schlug er bei einem Telefongespräch mit Putin neulich vor, russische Investoren könnten in der Türkei gerne in Rubel bezahlen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.