Die stille Revolution
So war es oft in Europa: Am Anfang war die Krise. Binnen vier Tagen hatten 2005 die Wähler erst in Frankreich und dann in den Niederlanden die neue EU-Verfassung per Referendum abgelehnt. „Es stimmt mich sehr traurig“, gestand damals der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom. Und auch die Politik war irritiert. Eine „Denkpause“ für Europa forderte Kanzler Gerhard Schröder.
Pause also statt Fortschritt. Dabei war eigentlich alles so schön geplant. Das größer gewordene Europa sollte auch nach der Osterweiterung 2004 arbeitsfähig bleiben. Ein Konvent unter Vorsitz des früheren französischen Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing tüftelte eine neue Verfassung für die EU aus – mit Grundrechten und Staatssymbolen wie Flagge und Hymne. Aber den Wählern in Frankreich und den Niederlanden war das zu viel europäische Staatlichkeit. Europa musste umschalten. Vertrag statt Verfassung, lautete die Devise. Und so trat vor fünf Jahren, am 1. Dezember 2009, der Lissabon-Vertrag in Kraft. Das Grundlagendokument sollte die EU schlagkräftiger und demokratischer machen.
EU-Parlament wird Machtfaktor
Von einem „Quantensprung für das Europäische Parlament“, spricht der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im Rückblick. Schließlich hat der Lissabon-Vertrag die Rechte für das Parlament erweitert, im Bereich der Innen- und Justizpolitik (Asyl), aber auch in Handelsfragen. So muss das Europäische Parlament seither Außenverträge der EU billigen. Das stärkt die Rolle der Abgeordneten, etwa bei den Verhandlungen mit den USA über das Freihandelsabkommen TTIP. Ihr neues Selbstbewusstsein haben die Parlamentarier mehrfach dokumentiert: 2010 legten sie das Swift-Abkommen über den Austausch von Bankdaten auf Eis, 2012 stoppten sie das Urheberrechtsabkommen Acta. Lissabon macht das Europäische Parlament zu einem Machtfaktor in Europa. Das hat auch dieser Sommer gezeigt. Mutig interpretierten die Abgeordneten Artikel 17 des Lissabon-Vertrags zur Kür des Kommissionspräsidenten. Mit Erfolg: Jean-Claude Juncker stieg mit Unterstützung des Parlaments zum Kommissionspräsidenten auf – gegen den Willen der Staats- und Regierungschefs. Eine stille Revolution im Kampf der Institutionen in Europa.
Zukunftsvertrag mit Anlaufschwierigkeiten
Der Lissabon-Vertrag ist kein hehres Verfassungsdokument, er ist eine solide Geschäftsordnung der EU. Mit Stärken und Schwächen. Erstmals koordiniert ein fester Ratspräsident die Arbeit der Mitgliedstaaten. Auch die Außenpolitik ist gestärkt. Die Hohe Repräsentantin, seit 1. November die italienische Sozialistin Federica Mogherini, ist zugleich Vertreterin der Mitgliedstaaten als auch Vize-Präsidentin der EU-Kommission. Das soll die Arbeit erleichtern. Auch haben die Wähler mehr direkten Einfluss: Erstmals gibt es im Lissabon-Vertrag das Recht auf eine europäische Bürgerinitiative.
Klingt alles sehr technisch. Und war auch nicht ganz einfach. Selbst nach Unterzeichnung des Vertrags am 13. Dezember 2007 in Lissabon. Von einem „Vertrag für die Zukunft“ war damals die Rede. Aber daran mochten nicht alle glauben. Irlands Wähler lehnten das Abkommen 2008 in einem Referendum ab. Es folgten leichte Nachbesserungen und ein zweites – erfolgreiches – Votum. Auch das Bundesverfassungsgericht billigte den Vertrag am 30. Juni 2009 – mahnte allerdings mehr Mitwirkungsrechte des Bundestags an.
Bedingungen für erfolgreiche Politik schaffen
Dem Lissabon-Vertrag ist anzumerken, dass er schnell gestrickt wurde. Er ist eher der kleinste gemeinsame Nenner der EU-Staaten als das größtmögliche gemeinsame Ziel. Dennoch hat er sich als Arbeitsgrundlage bewährt. Zum Jubiläum blickt Jo Leinen aber nach vorn. „Europa wird eine Verbesserung der Verträge brauchen“, sagt er. Einen neuen Konvent? Jo Leinen nickt und sagt lächelnd: „Wir müssen Bedingungen schaffen für eine erfolgreiche Politik im 21. Jahrhundert.“ Es ist wie so oft in Europa. Es gibt immer etwas zu tun.
ist Europa-Korrespondent. Bereits seit 2012 berichtet er aus Brüssel für die „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“.